Prof. Dr. Hans Josef Vogel
Rz. 69
Anders als im alten Recht bis 2018 ist das Kündigungsrecht wegen höherer Gewalt entfallen. Stattdessen hat die Richtlinie – insoweit in § 651h Abs. 3 BGB nachvollzogen – lediglich in Anlehnung an Art. 5 Abs. 3 Fluggastrechte-VO geregelt, dass der Reisende bei einem Rücktritt dann keinerlei Kosten zu tragen hat, wenn unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe die Durchführung der Reise erheblich beeinträchtigen oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigt ist.
Rz. 70
Art. 3 Nr. 12 der Pauschalreiserichtlinie definiert unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände als eine Situation außerhalb der Kontrolle der Partei, die sich darauf beruft, deren Folgen sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Vorkehrungen getroffen worden wären.
Eine erhebliche Beeinträchtigung liegt typischerweise dann vor, wenn eine sichere Durchführung der Pauschalreise oder eine sichere Beförderung nicht möglich ist. Entscheidend ist also eine objektive Beurteilung der Situation. Indizien für einen solchen Umstand sind Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes. Diese Reisewarnungen sind aber lediglich ein Indiz für das Vorliegen solcher Umstände und nicht tatbestandliche Voraussetzung eines Rücktrittsrechts des Kunden. Entscheidend ist stets, ob tatsächlich die der Reisewarnung zugrunde liegenden Tatsachen entsprechende Einschränkungen befürchten lassen.
Rz. 71
Da der Begriff der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände nicht auf die Kenntnis des Reisenden abstellt (anders als noch für den Begriff der höheren Gewalt), muss davon ausgegangen werden, dass ein Rücktritt ohne Kostenfolge für den Reisenden auch dann möglich ist, wenn zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses den Parteien bekannte Umstände vorlagen, die als unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände einzuordnen sind. Zum Teil wird allerdings auch vertreten, bei Kenntnis des Reisenden von den Umständen sei eine Stornierung wegen dieser Umstände kostenfrei nicht möglich. Ebenso ist derzeit die sich im Zuge der Corona-Pandemie aufdrängende Frage offen, ab welchem Maß des Auftretens Umstände nicht mehr außergewöhnlich sind. Es kommt hierbei also nicht auf die Kenntnis per se an, sondern auf die Frage, wie das Tatbestandsmerkmal außergewöhnlich zu verstehen ist. Unvermeidbar sind Umstände jedenfalls dann, wenn sie nicht der Kontrolle der Partei unterliegen, die sich hierauf beruft, und sich ihre Folgen auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Vorkehrungen getroffen worden wären. In jedem Fall wird der EuGH gerade wegen der massenhaften Stornierungen im Zuge der Corona-Pandemie die Gelegenheit haben, diese Frage zu klären.
In Erwägungsgrund 31 der Pauschalreiserichtlinie findet sich eine Reihe von Beispielen. Zudem können die bisherigen Fälle der Stornierung wegen höherer Gewalt mit Beachtung der Besonderheiten des Begriffs der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände zu Rate gezogen werden.
Rz. 72
Wesentlich ist, dass ein subjektives Gefährdungsempfinden des Reisenden nicht ausreicht. Entscheidend ist vielmehr, ob es objektiv zu einer Gefährdung kommt. Bei Rücktrittserklärungen ist überdies stets eine Prognoseentscheidung erforderlich, da dem Kunden nicht zugemutet werden darf, bis zum Tag vor dem Abflug mit der Entscheidung zu warten, ob er den Rücktritt erklärt. Eine Rücktrittsfrist enthält das Gesetz nicht; je näher am Reiseantritt der Rücktritt erfolgt, desto sicherer ist der Kunde. Die sinnvoll zu empfehlende Frist hängt nicht zuletzt auch vom dem tatsächlichen, dem Rücktritt zugrunde liegenden Geschehen ab. Im Rahmen der auf der Corona-Pandemie beruhenden Einschränkungen erscheint eine Frist von 30 Tagen vor Reiseantritt zutreffend. Ein solcher Rücktritt ist – insoweit unter Anwendung der Rechtsprechung zum Begriff der höheren Gewalt – möglich, wenn eine Eintrittswahrscheinlichkeit von 25 % oder mehr im Zeitpunkt des Rücktritts besteht. Tatsächlich heißt dies also: Der Reisende kann kostenfrei vom Vertrag zurücktreten, wenn zum Zeitpunkt der Rücktrittserklärung eine Wahrscheinlichkeit von 25 % oder mehr dafür besteht, dass es im Zeitpunkt der Reise zu erheblichen Beeinträchtigungen der Reise wegen solcher unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände kommt.