Kostenfreie Stornierung einer Pauschalreise?
Der Vorlagebeschluss des BGH betrifft die seit längerem in Rechtsprechung und Literatur umstrittene Frage, ob der nach dem Gesetz vorgesehene Entschädigungsanspruch des Reiseveranstalters als Folge eines vom Reisenden erklärten Rücktritts (Stornogebühr) nur dann entfällt, wenn bereits zum Zeitpunkt der Rücktrittserklärung außergewöhnliche Umstände am Reiseort die Durchführung der Pauschalreise erheblich beeinträchtigen oder ob solche Umstände auch dann noch kostenrelevant sind, wenn sie erst nach der Rücktrittserklärung eintreten.
Erhebliche Corona-Beschränkungen in Japan kurz nach Reisebuchung
In dem vom BGH zu entscheidenden Rechtsstreit hatte der Kläger bei der beklagten Reiseveranstalterin im Januar 2020 eine Reise nach Japan für den Zeitraum 3. bis 12. April 2020 zu einem Gesamtpreis von 6.148 Euro gebucht. Bereits Anfang Februar wurde bekannt, dass in Japan die Corona-Schutzmasken komplett ausverkauft waren. Im Februar schlossen die größeren Vergnügungsparks, Ende Februar verfügte die japanische Regierung ein Verbot sämtlicher Großveranstaltungen. Die Schulen wurden bis in den April hinein geschlossen.
Stornierung der Reise wegen Pandemiegefahren
Am 1.3.2020 erklärte der Kläger unter Hinweis auf die Situation den Rücktritt von der gebuchten Reise. Die von dem beklagten Reiseunternehmen berechneten Stornokosten in Höhe von 25 % des Reisepreises überwies der Kläger. Am 26.3.2020 verhängte die japanische Regierung für Japan ein komplettes Einreiseverbot. Daraufhin forderte der Kläger die Rückzahlung des geleisteten Stornobetrages.
Führt das Einreiseverbot zur Unzulässigkeit der Stornogebühr?
Die erst- und zweitinstanzlich mit dem Rückzahlungsverlangen befassten Gerichte entschieden unterschiedlich. Aus Sicht des BGH hängt der Ausgang des Rechtsstreits maßgeblich davon ab, ob das nach Erklärung des Rücktritts für Japan am 26.3.2020 verfügte Einreiseverbot den Anspruch der Reiseveranstalterin auf Einbehalt einer Entschädigung (Stornogebühr) nachträglich entfallen lässt.
Entschädigungsanspruch des Veranstalters ist die Regel
Zentrale Rechtsvorschriften für die Beurteilung dieser Frage sind § 651h BGB sowie die Auslegung der Pauschalreiserichtlinie der EU. Gemäß § 651h Abs. 1 Satz 2 BGB verliert der Reiseveranstalter den Anspruch auf den vereinbarten Reisepreis, wenn der Reisende vom Vertrag zurücktritt. Regelmäßig besteht nach dieser Vorschrift allerdings ein Anspruch des Veranstalters auf Einbehalt einer angemessenen Entschädigung.
Kein Entschädigungsanspruch bei erheblicher Reisebeeinträchtigung
§ 651h Abs. 3 BGB sieht allerdings vor, dass der Anspruch des Reiseveranstalters auf Entschädigung entfällt, wenn am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen. Mit der Regelung des BGB wurde Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie EU – 2015/2302 (Pauschalreiserichtlinie) umgesetzt, der ein kostenfreies Rücktrittsrecht des Reisenden unter den gleichen Voraussetzungen vorsieht.
Regelungen zum maßgeblichen Zeitpunkt fehlen
Sowohl das BGB als auch die EU-Pauschalreiserichtlinie enthalten keine ausdrückliche Regelung darüber, zu welchem Zeitpunkt die außergewöhnlichen, die Reise beeinträchtigenden Umstände vorliegen müssen. Im konkreten Fall hatte das zweitinstanzlich mit der Sache befasste LG geurteilt, dass zum Zeitpunkt der Rücktrittserklärung am 1.3.2020 eine erhebliche Beeinträchtigung der Reise noch nicht hinreichend wahrscheinlich und daher der Einbehalt einer Stornogebühr durch die Reiseveranstalterin gerechtfertigt war.
EuGH muss maßgeblichen Zeitpunkt klären
Der BGH ließ erkennen, dass er die Auffassung der Vorinstanz für rechtsfehlerhaft erhält. Vor dem Hintergrund der EU-Pauschalreiserichtlinie komme es aber entscheidend auf deren Auslegung an, sodass letztlich der EuGH die Frage zu klären habe, ob Art. 12 der EU Pauschalreiserichtlinie entscheidend auf den Zeitpunkt der Rücktrittserklärung abstellt oder ob nach dieser Vorschrift ein Reiserücktritt auch dann kostenfrei ist, wenn die beeinträchtigenden außergewöhnlichen Umstände erst nach Erklärung des Rücktritts auftreten.
Antwort des EuGH ist für weiteren Ablauf entscheidend
Sollte der EuGH die Auslegungsfrage dahingehend beantworten, dass auch Ereignisse nach der Erklärung des Rücktritts den Entschädigungsanspruch des Reiseveranstalters entfallen lassen, so wäre im konkreten Fall der Einbehalt einer Stornogebühr wegen des im März verhängten Einreiseverbots für Japan nicht gerechtfertigt und der Rechtsstreit entscheidungsreif. Der BGH würde dann selbst in der Sache entscheiden.
Auch Zurückverweisung an die Vorinstanz möglich
Der BGH stellte klar, dass auch im Falle einer anderslautenden Antwort des EuGH, der Einbehalt der Stornogebühr durch die Beklagte nicht automatisch gerechtfertigt wäre. Der Senat wies darauf hin, dass die bereits vor dem 1. März 2020 in Japan ergriffenen massiven Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionsgefahr zu beachtlichen Erschwernissen für Reisende geführt hätten. Dies habe die Vorinstanz bisher nicht ausreichend gewürdigt. Insoweit sei der Sachverhalt ggflls. dahingehend aufzuklären, ob bereits diese Beschränkungen geeignet waren, die Durchführung der Reise in einer Weise zu beeinträchtigen, dass ein Anspruch der Beklagten auf eine Entschädigung gemäß § 651h Abs. 3 BGB nicht bestand.
(BGH, Beschluss v. 2.8.2022, X ZR 53/21)
Hintergrund:
Die Fälle, in denen erst nach Erklärung eines Reiserücktritts sich die Umstände im Reiseland maßgeblich ändern, sind in Zeiten der Corona-Pandemie nicht gerade selten. Da dies erhebliche Auswirkungen für die mögliche Kostenfreiheit eines Reiserücktritts haben kann, ist die Klärung der Frage des maßgeblichen Zeitpunkts durch den EuGH dringend erforderlich. Die Antwort dürfte allerdings noch einige Zeit auf sich warten lassen. Bis dahin gibt es für Reisende dieser Frage keine Rechtssicherheit. Dies gilt auch für andere europäische Länder. Der österreichische Oberste Gerichtshof hatte kürzlich dem EuGH in einem ähnlichen Fall vergleichbare Fragen zur Beantwortung vorgelegt.
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