Dr. Stephan Pauly, Michael Pauly
Rz. 65
Weder das nationale Recht noch die MERL treffen ausdrückliche Regelungen über die Rechtsfolge von Fehlern im Massenentlassungsverfahren.
Das BAG ging früh davon aus, dass das Fehlen einer wirksamen Massenentlassungsanzeige vor Ausspruch der Kündigungen deren Unwirksamkeit zur Folge habe. Dies berücksichtige Sinn und Zweck der in Umsetzung der MERL geregelten Konsultations- und Anzeigepflichten des Arbeitgebers. Unter Beachtung des unionsrechtlichen Grundsatzes des "effet utile" führe es zur Unwirksamkeit der Kündigung als Rechtsgeschäft, wenn bei ihrem Ausspruch eine wirksame Anzeige nach § 17 Abs. 3 KSchG nicht vorliege. In der Erklärung der Kündigung liege dann ein Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot i.S.v. § 134 BGB.
Noch gilt: Verstöße gegen arbeitgeberseitige Verpflichtungen im Massenentlassungsverfahren können wegen des mit den Vorschriften bezweckten Arbeitnehmerschutzes unter Umständen zur Nichtigkeit der Kündigungen gem. § 134 BGB führen. Verbotsgesetz i.S.d. § 134 BGB ist die Anzeigepflicht des Arbeitgebers nach § 17 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 S. 2, 3 KSchG. Eine unterbliebene Anzeige führt zur Nichtigkeit der Kündigungen. Genügt die Massenentlassungsanzeige nicht den Vorgaben des § 17 Abs. 1, 3 BGB sind die Kündigungen ebenfalls nichtig. Dies ist der Fall, wenn die Anzeige die Stellungnahme des Betriebsrats zu den Entlassungen nicht enthält bzw. die Glaubhaftmachung über die Unterrichtung des Betriebsrats und den Stand der Beratungen Fehler enthält. Fehler im Anzeigeverfahren hinsichtlich der "Muss-Angaben" des § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG führen zur Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige und zur Nichtigkeit der Kündigungen. Nur unerhebliche Abweichungen führen nicht zur Unwirksamkeit aller Entlassungen. Auf eine zu niedrige Angabe der Zahl der zu entlassenden Arbeitnehmer können sich zudem nur Arbeitnehmer berufen, die von der Massenentlassungsanzeige nicht erfasst sind. Die Verpflichtung, die Massenentlassungsanzeige bei der für den Sitz des Betriebs örtlich zuständigen Agentur für Arbeit zu erstatten, die bei unionsrechtskonformer Auslegung aus § 17 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 S. 2 KSchG folgt, ist ebenfalls ein Verbotsgesetz i.S.d. § 134 BGB. Die Massenentlassungsanzeige ist daher ebenso wie die Kündigungen unwirksam, wenn die Anzeige bei einer unzuständigen Agentur für Arbeit erfolgt.
Dagegen hat das BAG bei Fehlern bezüglich der "Soll-Angaben" des § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG keine Unwirksamkeit der Kündigungen angenommen.
Ein nicht ordnungsgemäß durchgeführtes oder gar unterbliebenes Konsultationsverfahren gem. § 17 Abs. 2 KSchG führt zur Nichtigkeit der Kündigungen nach § 134 BGB.
Allerdings kündigen sich Änderungen zugunsten der Arbeitgeber an: Offengelassen hat das BAG bislang, ob der Verstoß gegen die Verpflichtung aus § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG, wonach der Agentur für Arbeit eine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat zuzuleiten ist, zur Nichtigkeit der Kündigung führt. Zur Ermittlung, ob § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG ein Verbotsgesetz i.S.d. § 134 BGB darstellt, ist auf den Schutzzweck der Bestimmung abzustellen. Dabei ist es entscheidend, ob die Bestimmung zumindest auch Individualschutz bezweckt. Zur Bestimmung des Schutzzwecks von § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG ist der Schutzzweck der zugrunde liegenden Richtlinienbestimmung des Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2 MERL entscheidend. Die Auslegung obliegt dem EuGH, sodass das BAG das Verfahren ausgesetzt und die Frage dem EuGH vorgelegt hat. Bereits die Schlussanträge des Generalanwalts Pikamäe, der den kollektiven Charakter von Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2 MERL betont, führten in anderen Verfahren des BAG zur Aussetzung des Rechtsstreits und zu einem Abwarten der Entscheidung des EuGH. Dabei stellt das BAG sein Sanktionssystem für Fehler bei Massenentlassungsanzeigeverfahren infrage. In einem der Fälle ging es um die Sanktionen bei Verstößen des Arbeitgebers gegen seine Verpflichtungen aus § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG, der Arbeitgeber ging fehlerhaft davon aus, keine Massenentlassungsanzeige stellen zu müssen. Der EuGH urteilte, dass die Verpflichtung des Arbeitgebers, die Agentur für Arbeit in einem frühen Stadium über geplante Massenentlassungen zu informieren, keinen Individualschutz der Arbeitnehmer bezweckt. Im Anschluss an die Entscheidung des EuGH hat der Sechste Senat eine Rechtsprechungsänderung angekündigt, indem die Rechtsprechung, dass eine im Rahmen einer Massenentlassung ausgesprochene Kündigung wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot i.S.v. § 134 BGB unwirksam ist, wenn im Zeitpunkt ihrer Erklärung keine oder eine fehlerhafte Anzeige nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG vorliegt, aufgegeben wird. Da dies auch von der Rechtsprechung des Zweiten Senats abweicht, ist das Verfahren ausgesetzt und der Zweite Senat hat sich zu äußern, ob er an der bisherigen Rechtsprechung festhält oder diese ebenfalls aufgibt. Dies hat zur Folge, dass auch andere Verfahren ausgesetzt sind.