Rz. 213
Eine kollektivrechtliche Verklammerung der Sozialauswahl kann sich daraus ergeben, dass ein Tarifvertrag, eine Betriebsvereinbarung nach § 95 BetrVG oder eine personalvertretungsrechtliche Dienstvereinbarung Richtlinien über die personelle Auswahl bei betriebsbedingten Kündigungen regelt.
Rz. 214
In einer solchen kollektivrechtlichen Vereinbarung kann festgelegt werden, wie die sozialen Gesichtspunkte Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung gemäß § 1 Abs. 3 KSchG im Verhältnis zu bewerten sind. Liegt eine solche Auswahlrichtlinie vor, so kann diese Bewertung gemäß § 1 Abs. 4 KSchG nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden. Regelmäßig erfolgt ein solche Festlegung in einer Auswahlrichtlinie durch Punkteschemata, in denen für die obigen Kriterien bestimmte Punkte verteilt werden (vgl. unter Rdn 187 ff.). Die Mitarbeiter mit den geringsten Punktzahlen sind im Verhältnis zu denen mit höheren Punktezahlen weniger schutzwürdig i.S.v. § 1 Abs. 3 KSchG.
Rz. 215
Berücksichtigungsfähig sind ausschließlich die gesetzlichen sozialen Kriterien des § 1 Abs. 3 KSchG. § 1 Abs. 4 KSchG betrifft nur die Gewichtung dieser Kriterien und nicht die Zusammensetzung des auswahlrelevanten Personenkreises oder die entgegenstehenden betrieblichen Bedürfnisse i.S.v. § 1 Abs. 3 KSchG.
Rz. 216
Die Überprüfung der Sozialauswahl aufgrund einer Auswahlrichtlinie erfolgt in zwei Schritten:
Zunächst muss eine ordnungsgemäße und für die konkrete Kündigung einschlägige Auswahlrichtlinie gegeben sein. Der Tarifvertrag, die Betriebs- oder Dienstvereinbarung müssen zunächst selbst zwingenden gesetzlichen Vorschriften entsprechen und somit mit höherrangigem Gesetz und Verfassungsrecht übereinstimmen. Ist das nicht gegeben, ist die Auswahlrichtlinie unwirksam. So muss die Auswahlrichtlinie den Grundsätzen von Recht und Billigkeit gemäß § 75 BetrVG und den Kriterien des § 1 Abs. 3 KSchG entsprechen. Dazu gehört, dass der Kreis der vergleichbaren Arbeitnehmer durch die Auswahlrichtlinie nicht abgeändert werden darf.
Rz. 217
Dies muss jedoch nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung führen, wenn der aufgrund einer unwirksamen Auswahlrichtlinie gekündigte Arbeitnehmer auch bei einer Kündigung unter Beachtung der Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG ein zu kündigender Arbeitnehmer gewesen wäre.
Rz. 218
Nach der Überprüfung der Rechtmäßigkeit ist eine Bewertungskontrolle der Pflichtkriterien des § 1 Abs. 3 KSchG in ihrem Verhältnis zueinander vorzunehmen.
Grob fehlerhaft ist die Bewertung der Grunddaten zueinander, wenn sie jede Ausgewogenheit vermissen lässt, d.h. wenn einzelne der vier Sozialdaten überhaupt nicht, eindeutig, unzureichend oder mit eindeutig überhöhter Bedeutung berücksichtigt wurden. Dies ist beispielsweise bei einer Richtlinie der Fall, die ein Kriterium so gering oder so stark bewertet, dass es in fast allen denkbaren Fällen für die Sozialauswahl ohne auswahlrelevanten Einfluss oder alle anderen Kriterien verdrängenden Einfluss ist.
Die Auswahlrichtlinie kann auch Regelungen zu berechtigten betrieblichen Interessen beinhalten. Ist dies der Fall, hat der Arbeitgeber sich insoweit an diese zu halten und kann sich nicht auf neue oder andere berechtigte betriebliche Interessen berufen, um die Weiterbeschäftigung von nach der Auswahlrichtlinie zu kündigenden Arbeitnehmern zu erreichen.