Rz. 417
Der geplante DSA stimmt nach dem derzeitigen Entwurfstext der EU-Kommission als "Grundgesetz für Online-Dienste" in weiten Teilen mit dem NetzDG überein. Als Verordnung, die die bisherigen Haftungsregeln der Art. 12–15 ECRL (§§ 7 ff. TMG) ersetzt (Art. 71 Abs. 1 DSA-E), werden die Bestimmungen von der Richtlinien-Ebene auf die Verordnungs-Ebene angehoben, gelten also unmittelbar. Neu ist auch die abgestufte Haftung, beginnend mit Vermittlungsdiensten (unterste Stufe), darüber Host-Provider, Online-Plattformen und auf der obersten Stufen den sehr großen Online-Plattformen (über 45 Mio. Nutzer) mit besonderen Transparenz-, Audit- und Selbstprüfungspflichten (Art. 26 und Art. 32 f. DSA-E).
Die inhaltliche Übereinstimmung zum NetzDG wird dadurch deutlich, dass bei Hinweisen auf begangene oder möglicherweise bevorstehende Straftaten, die das Leben oder die Sicherheit einer Person beeinträchtigen, Online-Plattformen den Behörden des jeweils zuständigen Mitgliedstaats alle relevanten Informationen zukommen lassen müssen, um damit eine Strafverfolgung zu ermöglichen (Art. 21 DSA-E, entspricht § 3a NetzDG).
Der DSA-E enthält zwar keine ausdrückliche Regelung zu seinem Verhältnis zum nationalen Recht, wodurch dieser sich von dem zugleich vorgelegten Kommissionsentwurf für eine Verordnung über bestreitbare und faire Märkte im digitalen Sektor (Digital Markets Act – DMA-E) unterscheidet. Dort heißt es in Art. 1 Abs. 5 DMA-E, dass die Mitgliedstaaten den betroffenen Unternehmen "keine weiteren Verpflichtungen im Wege von Rechts- oder Verwaltungsvorschriften auf(erlegen), um bestreitbare und faire Märkte zu gewährleisten." Eine solche Vorschrift gibt es im DSA-E nicht. Gleichwohl werden im Verhältnis zwischen DSA und NetzDG die allgemeinen Grundsätze zur Sperrwirkung bei Harmonisierungsrechtsakten gem. Art. 114 AEUV greifen. Letztere Norm ermächtigt die EU, harmonisierende Maßnahmen zu ergreifen. Allerdings können diese Maßnahmen eine unterschiedliche Intensität haben, z.B. als Minimalharmonisierung oder Vollharmonisierung, was im Einzelnen durch Auslegung zu ermitteln ist.
Zu Recht sehen Grünwald/Nüßling die Absicht der Vollharmonisierung, wofür gerade auch der Erwägungsgrund 41 des DSA-E spricht. Dort heißt es, dass die Absicht besteht, die Vorschriften zu Melde- und Abhilfeverfahren zu harmonisieren, um die "berechtigten Interessen sämtlicher betroffener Parteien unabhängig von dem Mitgliedstaat, in dem die Parteien ansässig oder niedergelassen sind", zu schützen.
Das zukünftige DSA wird das NetzDG (wohl) vollständig verdrängen. Entscheidend hierfür ist die Unsicherheit, die sich aus dem hier maßgeblichen Herkunftslandprinzip ergibt. Art. 3 ECRL (§ 3 TMG) schreibt die Beachtung des Herkunftslandprinzips vor (siehe Rdn 308). Hat ein Anbieter sozialer Netzwerke (wie meistens) seinen Sitz nicht in Deutschland, so wäre danach das deutsche NetzDG gar nicht anzuwenden, denn der EU-inländische Staat dürfte keine marktbehindernden Regelungen einführen, was aber gerade durch das NetzDG der Fall wäre. Zwar sieht die Bundesregierung die Ausnahmetatbestände des Art. 3 Abs. 3 und 4 ECRL als erfüllt an und verweist auf die dort genannten Ausnahmen für Straftatbestände, wie diese in Art. 1 Abs. 3 NetzDG erwähnt sind. Zu Recht weist Spindler aber darauf hin, dass es beim NetzDG nicht um strafrechtliche Normen gehe, sondern vielmehr um ein Beschwerdemanagement strafrechtsrelevanter Persönlichkeitsverletzungen. Dann aber gibt es im Hinblick auf die Anwendung des deutschen NetzDG bei im Ausland niedergelassenen Anbietern sozialer Netzwerke doch beachtliche Zweifel, die durch den geplanten DSA beseitigt werden.