Dr. iur. Nikolas Hölscher
Rz. 32
Für Vermächtnisse gibt es kraft Gesetzes keine Ausschlagungsfrist. Daher verschafft § 2307 Abs. 2 BGB dem mit einem Vermächtnis beschwerten Erben die Möglichkeit, dem Vermächtnisnehmer eine angemessene Frist zur Annahme des Vermächtnisses zu setzen, um Rechtsklarheit darüber zu erhalten, ob er mit der Pflichtteils- oder Vermächtniserfüllung belastet ist. Ist – im Wege des Untervermächtnisses – mit dem Vermächtnis ein Vermächtnisnehmer beschwert, so steht weder diesem noch dem Erben ein Fristsetzungsrecht zu, da keiner von ihnen sich diesen konkurrierenden Ansprüchen ausgesetzt sieht und insofern die Norm teleologisch zu reduzieren ist.
Rz. 33
Mehrere mit einem gleichen Vermächtnis belastete Erben können das Fristsetzungsrecht nur gemeinsam ausüben, jedoch muss dies nicht "uno actu" in einer gleichzeitigen Erklärung erfolgen. Bei einem Vorausvermächtnis erfolgt die Fristsetzung durch die übrigen belasteten Miterben. Hat der mit einem Vorausvermächtnis bedachte Miterbe die Erbschaft angenommen, trifft ihn die Ausschlagungsfiktion des § 2307 Abs. 2 S. 2 BGB nicht, wenn ihm infolge der Erbschaftsannahme keinerlei Pflichtteilsrestanspruch zusteht. Da es sich um eine einseitige Erklärung handelt, ist zwar grundsätzlich die vorherige Einwilligung der anderen Miterben erforderlich, jedoch wird man § 180 S. 2 BGB hierfür wenigstens entsprechend anwenden müssen.
Rz. 34
Die Fristsetzung erfolgt durch empfangsbedürftige, formlose Willenserklärung gegenüber dem Pflichtteilsberechtigten. Dabei muss die gesetzte Frist angemessen in Bezug auf die zu treffende Entscheidung sein. Die Frist läuft daher i.d.R. nicht vor einer Inventarfrist ab, die der Pflichtteilsberechtigte dem Erben gesetzt hat, und auch nicht, bevor eine vom Pflichtteilsberechtigten verlangte Auskunft und Wertermittlung (§ 2314 BGB) erbracht wurde. Im Wege einer geltungserhaltenden Reduktion wird jedoch eine zu kurz bemessene Frist durch eine als angemessen zu erachtende ersetzt.
Rz. 35
Nach fruchtlosem Fristablauf gilt das Vermächtnis als ausgeschlagen (§ 2307 Abs. 2 S. 2 BGB). Daher kann dann der ungekürzte Pflichtteilsanspruch geltend gemacht werden (siehe Rdn 20). Da es sich um eine gesetzliche Fiktion handelt, ist der Wille des Pflichtteilsberechtigten für den Eintritt der Ausschlagungswirkung unerheblich. Wegen der Sonderregelung des § 2308 Abs. 2 S. 1 BGB, der auf § 1956 BGB verweist, ist jedoch trotzdem eine Anfechtung der Fristversäumung möglich.