Rz. 113

Ereignet sich beim Linksabbiegen ein Unfall mit dem Gegenverkehr auf der Gegenfahrbahn,[104] spricht gegen den Abbiegenden erst einmal der Beweis des ersten Anscheins, der einen schuldhaften Verstoß des Abbiegenden gegen § 9 Abs. 3 StVO begründet. Dessen Fehlverhalten wiegt in der Regel so schwer, dass die einfache Betriebsgefahr des Fahrzeugs des Gegenverkehrs dahinter zurücktritt.[105] Dies gilt selbst dann, wenn der Gegenverkehr dem Abbieger durch Setzen eines Lichtzeichens den Vortritt einräumt (sog. gefährdende Höflichkeit).[106] Der Gegenverkehr behält sein Vorrangrecht auch, wenn er seinerseits nach rechts abbiegt und ihm steht das Recht des ersten Abbiegevorgangs zu, bis er sich vollständig in den neuen Straßenbereich eingegliedert und dort lange genug geradeaus gefahren ist, um sich auf andere Fahrzeuge im gleichgerichteten Verkehr einzustellen.[107]

 

Rz. 114

Muster 4.42: Anscheinsbeweis gegen den Linksabbieger nach § 9 Abs. 3 StVO

 

Muster 4.42: Anscheinsbeweis gegen den Linksabbieger nach § 9 Abs. 3 StVO

Kollidiert der nach links abbiegende Fahrzeugführer mit einem entgegenkommenden Kfz, spricht der Anscheinsbeweis für einen schuldhaften Verstoß des Linksabbiegers gegen § 9 Abs. 3 StVO und dessen Fehlverhalten wiegt in der Regel so schwer, dass die einfache Betriebsgefahr des Fahrzeuges des Gegenverkehrs dahinter zurücktritt (BGH, Urt. v. 7.2.2011 – VI ZR 133/11 = SP 2012, 171; BGH, Urt. v. 13.2.2007 – VI ZR 58/06 = MDR 2007, 884; OLG München, Urt. v. 25.9.2009 – 10 U 1921/09 – juris; LG Essen, Urt. v. 14.1.2015 – 11 O 94/13 – juris; LG Mönchengladbach, Urt. v. 9.1.2017 – 11 O 233/15 – juris).

 

Rz. 115

Der Anscheinsbeweis greift allerdings nur dann ein, wenn der Unfall im Bereich der Gegenfahrbahn stattgefunden hat,[108] wobei die Pflicht des Abbiegenden zum Abwarten sich auch gegenüber dem Geradeausfahrer erstreckt, der zu weit links[109] oder unerlaubt auf einem Sonderstreifen[110] fährt. Gegen den abbiegenden Fahrzeugführer spricht aber nicht der Beweis des ersten Anscheins, wenn für ihn nicht erkennbar war, dass ein verkehrswidriges Geradeausfahren des Gegenverkehrs unter Ausnutzung der Abbiegespur erfolgen wird und deshalb der Abbiegevorgang hätte zurückgestellt werden müssen.[111]

 

Rz. 116

Muster 4.43: Voraussetzung für den Anscheinsbeweis nach § 9 Abs. 3 StVO

 

Muster 4.43: Voraussetzung für den Anscheinsbeweis nach § 9 Abs. 3 StVO

Ein Anscheinsbeweis wegen eines schuldhaften Verstoßes gegen § 9 Abs. 3 StVO beim Abbiegen setzt voraus, dass das abbiegende Fahrzeug bereits in den Bereich der Gegenfahrbahn eingefahren ist (OLG Düsseldorf, Urt. v. 18.3.1992 – 15 U 57/91 = OLGR Düsseldorf 1992, 174; LG Berlin, Urt. v. 9.11.2000 – 58 S 98/00 – juris). Dies ist als Voraussetzung des Anscheinsbeweises von demjenigen darzulegen und zu beweisen, der sich hierauf beruft. Ist ein solches Abkommen auf die Gegenfahrbahn nicht bewiesen, greift auch der Anscheinsbeweis nicht ein. Im Übrigen besteht die Wartepflicht des Abbiegers nur in dem Fall, dass sich der Gegenverkehr zum Zeitpunkt des Abbiegens bereits in Sichtweise befunden hat (OLG Saarbrücken, Urt. v. 4.2.2003 – 3 U 103/02 = DAR 2004, 9).

Diese fehlende Sichtbarkeit bzw. die Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufes zur Erschütterung des gegen ihn sprechenden Anscheinsbeweises hat der Abbiegende zu beweisen.[112] Ein solcher anderer Geschehensablauf kommt beispielsweise in Betracht, wenn der Gegenverkehr erwiesenermaßen die zulässige Höchstgeschwindigkeit um 100 % überschritten hat.[113]

 

Rz. 117

Kommt es dagegen an einer ampelgeregelten Kreuzung zu einem Zusammenstoß zwischen dem Gegenverkehr und einem Linksabbieger, dessen Einfahrt möglicherweise über eine Ampelschaltung mit "grünem Pfeil" gestattet war, greifen die Grundsätze des Anscheinsbeweises nicht ein.[114] Vielmehr muss der entgegenkommende Verkehrsteilnehmer ggf. beweisen, dass der grüne Pfeil für den Linksabbieger nicht aufgeleuchtet hat.[115] Bleibt dies ungeklärt, haften beide Seiten lediglich aus Betriebsgefahr und es verbleibt bei einer Haftungsteilung.[116] Teilweise wird eine erhöhte Betriebsgefahr des Abbiegenden mit einer Haftungsquote von ⅔ zu seinen Lasten angenommen.[117] Im Gegenzug darf der Linksabbieger bei dem Aufleuchten des grünen Pfeils darauf vertrauen,[118] dass dem entgegenkommenden Verkehr die Weiterfahrt durch ein rotes Lichtzeichen versperrt ist und mit einem Rotlichtverstoß des entgegenkommenden Fahrzeugführers muss er nur rechnen, wenn ein konkreter Anlass besteht.[119] Wenn der entgegenkommende Fahrzeugführer bei einem späten Rot einfährt, haftet dieser im Zweifel alleine.[120]

 

Rz. 118

Muster 4.44: Kein Anscheinsbeweis bei grünem Abbiegerpfeil

 

Muster 4.44: Kein Anscheinsbeweis bei "grünem Abbiegerpfeil"

Gegen den abbiegenden Kreuzungsführer spricht vorliegend kein Anscheinsbeweis wegen eines angeblichen Verstoßes gegen § 9 Abs. 3 StVO. Insoweit ist zu beachten, dass die vorliegende Linksabbiegerampel mit einem gesonderten Abbiegerpfeil vorhanden ist, so dass ein Ve...

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