Rz. 140
Der Unfall zwischen einem nach links abbiegenden Kfz und einem überholenden nachfolgenden Kfz wird häufig durch das Eingreifen des Anscheinsbeweises zu Lasten des Linksabbiegers entschieden, wobei aber zu differenzieren ist, ob der Linksabbiegevorgang in eine Straße einerseits oder andererseits ein Grundstück bzw. vergleichbaren Ziel i.S.d. § 9 Abs. 5 StVO erfolgt und damit erhöhte Sorgfaltsanforderungen auslöst. Eine Mithaftung des überholenden Fahrzeugführers kann sich aus einem schuldhaften Verursachungsbeitrag, d.h. in erster Linie dem Überholen in einer unklaren Verkehrslage oder verschuldensunabhängig unter dem Gesichtspunkt der durch den Überholvorgang per se erhöhten Betriebsgefahr ergeben.
aa) Abbiegen nach links in ein Grundstück
Rz. 141
Im Wege des Anscheinsbeweises wird ein schuldhafter Verstoß gegen § 9 Abs. 5 StVO zu Lasten desjenigen festgestellt, der im zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Verkehrsunfall in ein Grundstück abgebogen ist.
Rz. 142
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Muster 4.51: Anscheinsbeweis bei Abbiegen nach links in ein Grundstück
Im Wege des Anscheinsbeweises wird ein schuldhafter Verstoß gegen § 9 Abs. 5 StVO zu Lasten desjenigen vermutet, der im zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Verkehrsunfall in ein Grundstück abgebogen ist (OLG Düsseldorf, Urt. v. 2.4.2019 – I 1 U 108/18 – juris; OLG Hamburg, Urt. v. 1.9.2009 – 3 U 36/09 = MDR 2010, 26; KG, Urt. v. 7.10.2002 – 12 U 41/01 = MDR 2003, 507). Dies insbesondere im Hinblick auf die in § 9 Abs. 1 S. 4 StVO zugrunde gelegte doppelte Rückschaupflicht (OLG Düsseldorf, Urt. v. 2.4.2019 – I 1 U 108/18 – juris; OLG Stuttgart, Urt. v. 4.6.2014 – 3 U 15/14 = Schaden-Praxis 2014, 404 ff.; OLG Naumburg, Urt. v. 12.12.2008 – 6 U 106/08 = VersR 2009, 373). Hierhinter tritt die einfache Betriebsgefahr eines anderen unfallbeteiligten Fahrzeugs zurück (OLG München, Urt. v. 11.6.2010 – 10 U 2282/10 = NJW Spezial 2010, 489; OLG Hamburg, Beschl. v. 20.3.2012 – 15 U 15/12 – juris).
Rz. 143
Den überholenden Kraftfahrzeugführer kann eine Mithaftung unter dem Gesichtspunkt des Überholens in einer unklaren Verkehrslage treffen (§ 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO). Eine unklare Verkehrslage liegt immer dann vor, wenn nach allen Umständen ein ungefährdetes Überholen nicht möglich ist, da nicht sicher beurteilt werden kann, wie sich der Vorausfahrende verhalten wird. Nach überzeugender Rechtsprechung ist dies aber nicht schon dann der Fall, wenn der Vorausfahrende lediglich die Geschwindigkeit verlangsamt oder sein Fahrzeug an den Fahrbahnrand lenkt. Sobald aber rechtzeitig der Blinker zum Abbiegen gesetzt worden ist, wird i.d.R. eine Verkehrslage gegeben sein, die ein ungefährdetes Überholen nicht mehr zulässt. Für die Rechtzeitigkeit des gesetzten Fahrtrichtungsanzeigers kommt es auf die Zeit zwischen dem Setzen und dem Abbiegevorgang an. Bei einer Geschwindigkeit von 30 km/h ist ein Zeitraum von 5 Sekunden ausreichend, damit sich der nachfolgende Verkehr auf das Abbiegen einstellen kann.
Rz. 144
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Muster 4.52: Mithaftung wegen Überholens in einer unklaren Verkehrslage
Eine unklare Verkehrslage liegt immer dann vor, wenn nach allen Umständen ein ungefährdetes Überholen nicht möglich ist, da nicht sicher beurteilt werden kann, wie sich der Vorausfahrende verhalten wird (OLG Düsseldorf, Urt. v. 2.4.2019 – I 1 U 108/18 – juris; KG, Beschl. v. 13.8.2009 – 12 U 223/08 – juris = NZV 2010, 298; LG Hamburg, Urt. v. 23.1.2015 – 302 O 220/14 = zfs 2015, 380). Dies ist bereits dann gegeben, wenn – wie hier – der Vorausfahrende Fahrzeugführer rechtzeitig den linken Blinker gesetzt hat (OLG Stuttgart, Beschl. v. 8.4.2011 – 13 U 2/11 – juris; OLG Hamm, Beschl. v. 23.2.2006 – 6 U 126/05 – juris; KG, Urt. v. 4.1.2006 – 12 U 202/05 = NZV 2006, 369). Im Übrigen folgt zumindest aus einem deutlichen Langsamerwerden des vorausfahrenden Fahrzeugs und einer Orientierung zur Fahrbahnmitte hin eine unklare Verkehrslage. In jedem Fall ist ein Überholen in einer unklaren Verkehrslage zu bejahen, wenn die Fahrweise auf ein bevorstehendes Linksabbiegen hindeutet (OLG Hamm, Beschl. v. 23.2.2006 – 6 U 126/05 – juris; OLG Düsseldorf, Urt. v. 2.4.2019 – I 1 U 108/18 – juris). Insbesondere eine ungewöhnliche Geschwindigkeit begründet ein Misstrauen im Hinblick auf das künftige Fahrverhalten des langsam Fahrenden (OLG Düsseldorf, Urt. v. 10.3.2008 – 1 U 175/07 – juris = Schaden-Praxis 2008, 356).
Rz. 145
Unter welchen Umständen eine unklare Verkehrslage bereits dann vorliegt, wenn der Vorausfahrende die Geschwindigkeit verlangsamt und sich zur Fahrbahnmitte bzw. einem Grundstück hin einordnet, ist in der Rechtsprechung umstritten. Ein leichtes Einordnen nach links genügt nach einer Auffassung noch nicht. Eine strengere Auffassung lässt auch ein Einordnen nach links zusammen mit einem Abbremsen noch nicht genügen. Jedoch deutet ein Verhalten des Vorausfahrenden auf ein Abbiegen hin, wenn zwei vorausfahrende Fahrzeuge erk...