Rz. 148
Ein ähnliches Bild bietet sich bei dem Unfall, bei dem der Abbiegevorgang nicht in ein Grundstück, sondern in eine andere Straße erfolgt. Auch in diesem Fall wird im Wege des Anscheinsbeweises ein schuldhafter Verstoß des Abbiegenden gegen die in § 9 Abs. 1 StVO normierte doppelte Rückschaupflicht festgestellt.
Rz. 149
Muster 4.54: Anscheinsbeweis Verletzung der doppelten Rückschaupflicht
Muster 4.54: Anscheinsbeweis Verletzung der doppelten Rückschaupflicht
Im Wege des Anscheinsbeweises wird ein schuldhafter Verstoß gegen die in § 9 Abs. 1 StVO normierte Verpflichtung zur doppelten Rückschau zu Lasten desjenigen vermutet, der im zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Verkehrsunfall nach links abgebogen ist (OLG Hamm, Beschl. v. 8.1.2016 – 9 U 125/15 – juris; OLG Hamm, Urt. v. 7.3.2014 – 9 U 210/13 – juris; OLG Stuttgart; Urt. v. 4.6.2014 – 3 U 15/14 = SP 2014, 404 ff.; KG Berlin, Urt. v. 26.1.2004 – 12 U 1439/02 = NZV 2005, 413; OLG Celle, Urt. v. 14.5.1992 – 5 U 32/91 = SP 1993, 3).
Rz. 150
Ein Unterschied liegt allerdings darin, dass der Überholvorgang im Kreuzungsbereich erfolgt und hierin ein besonders gefahrenträchtiges Fahrmanöver liegt. Den überholenden Fahrzeugführer wird daher i.d.R. auch ohne ein Verschulden allein aufgrund der erhöhten Betriebsgefahr eine Mithaftung treffen, die sachgerecht bei 25 % anzusetzen sein dürfte.
Rz. 151
Muster 4.55: Mithaftung des Überholenden aus Betriebsgefahr bei Abbiegen im Kreuzungsbereich
Muster 4.55: Mithaftung des Überholenden aus Betriebsgefahr bei Abbiegen im Kreuzungsbereich
Vorliegend ist zu beachten, dass der Abbiegevorgang nicht in den ruhenden Verkehr mit den dabei geltenden Haftungsverschärfungen des § 9 Abs. 5 StVO erfolgt ist, sondern in einem gut erkennbaren Kreuzungsbereich durchgeführt wurde. Wird auf dem Bereich einer solchen Kreuzung ein Überholmanöver durchgeführt, haftet der Überholende mit mindestens 25 % verschuldensunabhängig allein aufgrund der durch dieses Fahrmanöver erhöhten Betriebsgefahr, da ein solches Überholen typischerweise die Gefahr einer Kollision im Kreuzungsbereich schafft (OLG Frankfurt, Urt. v. 8.7.2002 – 1 U 113/01 = OLGR Frankfurt 2002, 300).
Rz. 152
Hat der von hinten herannahende Fahrzeugführer auch in einer unklaren Verkehrslage überholt, erhöht sich die Betriebsgefahr derart, dass mindestens eine Haftung zu gleichen Anteilen (z.B. beim Abbiegen in einen Feldweg), wenn nicht gar eine leicht überwiegende Haftung des Überholenden mit ⅔ bis zu 70 % gegeben ist.
Eine unklare Verkehrslage kann hier bereits dann anzunehmen sein, wenn der Vorausfahrende seine Geschwindigkeit verlangsamt und sich zur Fahrbahnmitte hin einordnet, wenn ein Abbiegen aufgrund des gut erkennbaren Kreuzungsbereichs naheliegt. Des Nachweises eines rechtzeitig gesetzten Blinkers bedarf es dann nicht mehr.
Wenn der abbiegende Fahrzeugführer den gegen ihn sprechenden Anscheinsbeweis erschüttern kann, bleibt zu seinen Lasten aufgrund der im Abbiegevorgang liegenden erhöhten Betriebsgefahr i.d.R. eine Mithaftung von 20 % bestehen.
Rz. 153
Muster 4.56: Überholen in unklarer Verkehrslage im Kreuzungsbereich
Muster 4.56: Überholen in unklarer Verkehrslage im Kreuzungsbereich
Eine unklare Verkehrslage liegt immer dann vor, wenn nach allen Umständen ein ungefährdetes Überholen nicht möglich ist, da nicht sicher beurteilt werden kann, wie sich der Vorausfahrende verhalten wird (OLG Düsseldorf, Urt. v. 2.4.2019 – I 1 U 108/18 – juris; KG, Beschl. v. 13.8.2009 – 12 U 223/08 – juris = NZV 2010, 298; LG Hamburg, Urt. v. 23.1.2015 – 302 O 220/14 = zfs 2015, 380). Dies ist bereits dann gegeben, wenn – wie hier – der vorausfahrende Fahrzeugführer rechtzeitig den linken Blinker gesetzt hat (OLG Stuttgart, Beschl. v. 8.4.2011 – 13 U 2/11 – juris; OLG Hamm, Beschl. v. 23.2.2006 – 6 U 126/05 – juris; KG Berlin, Urt. v. 4.1.2006 – 12 U 202/05 = NZV 2006, 369).
Im Übrigen ist vorliegend die Besonderheit zu berücksichtigen, dass ein Überholmanöver im Kreuzungsbereich erfolgt ist. Selbst wenn der Blinker nicht rechtzeitig gesetzt worden sein sollte, so war für den nachfolgenden Verkehr jedoch nicht klar, aus welchem Grund das vorausfolgende Fahrzeug abgebremst wird. Zumindest im Kreuzungsbereich folgt aus dem Abbremsen und einem ggf. möglichen Einordnen zur Fahrbahnmitte hin eine unklare Verkehrslage, in welcher sich ein Überholvorgang für den nachfolgenden Verkehr verbietet (LG Lüneburg, Urt. v. 25.4.2001 – 8 S 140/00 = SP 2002, 122).