Rz. 85
Einigen sich die Parteien im Kündigungsschutzprozess auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Vergleich, werden nahezu immer auch sonstige streitige bzw. noch offene Ansprüche mitverhandelt und mitgeregelt, auch wenn diese bis dahin noch nicht vor Gericht gebracht wurden. Die Parteien wollen die Angelegenheit verständlicherweise ein für alle Mal umfassend klären und nicht im Nachgang über einzelne Punkte der Abwicklung des Arbeitsverhältnisses streiten. Diese Praxis führt zu einer zusätzlichen Verfahrensgebühr, die als Verfahrensdifferenzgebühr in Nr. 3101 Nr. 2 VV geregelt ist.
Mit der Mitverhandlung anderer noch offener Ansprüche ist stets auch eine neue Mandatierung oder eine Auftragserweiterung verbunden, denn der Anwalt schuldet seine Dienste nur aufgrund des erteilten Mandats und nur in dieser Angelegenheit. Auch dann, wenn er über das jeweilige Mandat hinaus belehren muss, führt dies nicht zu einer automatischen Auftragserweiterung. Deshalb muss sich der Mandatsvertrag auch auf die Punkte erstrecken, die der Anwalt durch die Protokollierung eines Vergleichs regelt, d.h. der Mandant muss dem Anwalt erst dieses neue Mandat antragen oder den Auftrag erweitern und der Anwalt muss dies annehmen; dies kann auch konkludent geschehen (siehe Rdn 24 f.). Für den Anwalt ergibt sich daraus Folgendes: Hat der Mandant ihm den Prozessauftrag erteilt, auch über nicht rechtshängige Ansprüche eine Einigung auszuhandeln, die bei Gericht protokolliert werden soll, entsteht hierfür aus dem Mehrwert eine zusätzliche Verfahrensdifferenzgebühr nach Nr. 3101 Nr. 2 VV. Ohne Prozessauftrag kommt grundsätzlich "nur" die Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV zur Anwendung.
Beispiel
Nachdem der Arbeitnehmer gehört hat, dass er eine Kündigung erhalten soll, verlangt er vom Arbeitgeber ein qualifiziertes Zwischenzeugnis. Anschließend erhält er zwar eine Kündigung, allerdings kein Zwischenzeugnis.
Der Arbeitnehmer beauftragt den Anwalt, Kündigungsschutzklage zu erheben und den Arbeitgeber wegen des Zwischenzeugnisses außergerichtlich anzuschreiben. Im Gütetermin einigen sich die Parteien auf eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu geänderten Bedingungen und darauf, dass der Arbeitnehmer erst zum Jahresende ein qualifiziertes Zwischenzeugnis erhält. Hier liegt wegen des Zwischenzeugnisses kein Prozessauftrag vor, denn der Anwalt sollte dieses nur außergerichtlich geltend machen.
Rz. 86
Die zusätzliche Verfahrensdifferenzgebühr nach Nr. 3101 Nr. 2 VV liegt bei 0,8 (siehe hierzu Rdn 62) und bemisst sich nach dem Differenzwert, d.h. dem Wert des Vergleichs minus dem Wert des Streitgegenstands des Verfahrens.
Hierbei kommt allerdings ggf. die Kappungsgrenze des § 15 Abs. 3 RVG zum Tragen: Danach entstehen dann, wenn für Teile des Gegenstands verschiedene Gebührensätze anzuwenden sind, für diese gesondert berechnete Gebühren, jedoch nicht mehr als die aus dem Gesamtbetrag der Wertteile nach dem höchsten Gebührensatz berechnete Gebühr. In der Praxis ist also wie folgt vorzugehen:
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Die Verfahrensgebühren werden zunächst für die jeweiligen Gegenstände gesondert berechnet, wobei für das Verfahren eine Gebühr von 1,3 und die miterledigten Teile eine Gebühr von 0,8 angesetzt werden. |
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Dann muss überprüft werden, ob eine 1,3 Verfahrensgebühr nach dem zusammengerechneten Wert beider Gegenstände geringer ist als die beiden getrennt ermittelten Verfahrensgebühren zusammen. |
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Sollte das der Fall sein, kann statt der beiden getrennt ermittelten Verfahrensgebühren nur eine 1,3 Verfahrensgebühr nach dem zusammengerechneten Wert beider Gegenstände berechnet werden. |
Rz. 87
Beispiel
Der Arbeitgeber kündigt einem Arbeitnehmer, der 4.000 EUR brutto im Monat verdient; der Gegenstandswert der Verfahrensgebühr liegt also bei 12.000 EUR. Im Kündigungsschutzprozess einigen sich die Parteien vergleichsweise auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses und der Arbeitgeber verpflichtet sich zusätzlich, dem Arbeitnehmer ein "gutes" Zeugnis nach dessen Entwurf zu erteilen. Der Mehrwert für die Verfahrensdifferenzgebühr liegt damit bei 4.000 EUR, der addierte Wert bei (12.000 EUR + 4.000 EUR =) 16.000 EUR.
Es entstehen eine 1,3 Verfahrensgebühr aus 12.000 EUR (= 865,80 EUR) und eine 0,8 Verfahrensdifferenzgebühr aus 4.000 EUR (= 222,40 EUR), das ergibt addiert 1.088,20 EUR. Nach § 15 Abs. 3 RVG darf die Verfahrensgebühr insgesamt nicht höher liegen als eine 1,3 Verfahrensgebühr aus dem addierten Wert von 16.000 EUR (= 933,40 EUR), sodass es hier zu einer Kappung der Verfahrensgebühr auf 933,40 EUR kommt.
Rz. 88
Die Verfahrensdifferenzgebühr gilt die anwaltliche Tätigkeit als solche ab und setzt keinen bestimmten Erfolg wie z.B. die Einigung voraus (siehe Rdn 62). Der Rechtsanwalt erhält die Verfahrensdifferenzgebühr daher auch dann, wenn seine Bemühungen um eine gütliche Einigung erfolglos waren und keine Einigung erzielt werden konnte, z.B. weil sich die Parteien nach Verhandlungen oder nach Beantragung der Protokollierung doch nicht einigen konnten...