Rz. 365
Wenn jemand mehrere Straftaten begangen hat, die gleichzeitig abgeurteilt werden, und dadurch mehrere Freiheits- und/oder Geldstrafen verwirkt, ist gem. § 53 Abs. 1 StGB eine Gesamtstrafe zu bilden. § 55 Abs. 1 StGB ermöglicht eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung, wenn ein rechtskräftig Verurteilter, bevor die gegen ihn erkannte Strafe vollstreckt, verjährt oder erlassen ist, wegen einer anderen Straftat verurteilt wird, die er vor der früheren Verurteilung begangen hat.
Rz. 366
Grundgedanke des § 55 StGB ist, dass Taten, die bei gemeinsamer Aburteilung nach §§ 53, 54 StGB behandelt worden wären, auch bei getrennten Verfahren dieselbe Behandlung erfahren sollen. Wird im späteren Verfahren die grundsätzlich zwingend gebotene Gesamtstrafenbildung unterlassen, so eröffnet § 460 StPO das Nachtragsverfahren, in dem der Verurteilte so gestellt werden muss, als habe bereits der letzte Tatrichter die Gesamtstrafe gebildet. Dabei ist die Angemessenheit der erkannten Strafen nicht zu prüfen und die Gesamtstrafe darf nicht unter der höchsten Einzelstrafe bleiben. Auch das Schlechterstellungsverbot ist zu beachten.
Rz. 367
Die Bildung der Gesamtstrafe muss nachvollziehbar sein und sowohl dem Beschwerdegericht die rechtliche Nachprüfung des Rechtsfolgenausspruchs ermöglichen als auch dem betroffenen Verurteilten die bestimmenden Gesichtspunkte für die Höhe der Gesamtstrafe erkennbar und plausibel machen. Dabei muss das Gericht nach § 54 Abs. 2 S. 3 StGB die Person des Täters und die einzelnen Taten zusammenfassend würdigen. Die Strafaussetzung zur Bewährung in den vorherigen Urteilen steht der Gesamtstrafenbildung nicht entgegen. Vielmehr macht die nachträgliche Gesamtstrafenbildung eine Strafaussetzung gegenstandslos, ohne dass es eines Widerrufs bedarf. War eine der einbezogenen Strafen nicht zur Bewährung ausgesetzt, so hindert dies die Aussetzung der Gesamtstrafe zur Bewährung jedoch nicht. Wurde allerdings die Strafaussetzung für sämtliche einbezogenen Straftaten abgelehnt, darf auch die Gesamtstrafe nicht zur Bewährung ausgesetzt werden.
Rz. 368
Gemäß § 462 Abs. 1 S. 1 StPO entscheidet das zuständige Gericht ohne mündliche Verhandlung. Ergeht die Entscheidung im Nachtragsverfahren von Amts wegen oder auf Antrag der Staatsanwaltschaft als Strafverfolgungsbehörde, so ist der Verurteilte gem. § 462 Abs. 2 StPO vor der Entscheidung zu hören. Der Beschluss ist nach § 462 Abs. 3 S. 1 StPO mit sofortiger Beschwerde anfechtbar. Anfechtungsgründe liegen vor, wenn die Voraussetzungen des § 55 StGB nicht gegeben sind oder wenn der Richter bei den Strafzumessungserwägungen bezüglich der neu zu bildenden Gesamtstrafe die Person des Täters und die einzelnen Straftaten nicht zusammenfassend gewürdigt hat. Hat der letzte Tatrichter von der Bildung der Gesamtstrafe abgesehen, weil er aus Rechtsirrtum nicht erkannt hat und demnach auch sachlich nicht geprüft hat, ob eine Gesamtstrafenbildung möglich war, ist § 460 StPO anwendbar. Das gilt nicht, wenn die Anwendbarkeit des § 55 StGB ausdrücklich geprüft und rechtsfehlerhaft abgelehnt wurde.