Rz. 17
Das Streikrecht wird eingeschränkt durch die Friedenspflicht. Dies bedeutet, dass aus einem bestehenden und wirksamen Verbands- oder Firmentarifvertrag keine gleichen Forderungen zum Anlass eines weiteren Arbeitskampfes führen können (BAG v. 8.2.1957, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Friedenspflicht; BAG v. 21.12.1982, AP Nr. 76 zu Art. 9 Arbeitskampf; BAG v. 27.6.1989, DB 1989, 2228; BAG v. 10.2.2002, NZA 2003, 734; BAG v. 24.4.2007, DB 2007, 1924; ErfK/Linsenmaier, GG, Art. 9 Rn 124 f.; ErfK/Franzen, TVG, § 1 Rn 81 ff.). Eine Friedenspflicht muss nicht gesondert oder ausdrücklich vereinbart werden, sondern sie gehört zum schuldrechtlichen Teil eines jeden Tarifvertrages. Sie ist dem Tarifvertrag immanent (BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734; BAG v. 24.4.2007, DB 2007, 1924; BAG v. 19.6.2007, NZA 2007, 1055).
Rz. 18
Im Regelfall ist nur eine relative Friedenspflicht anzunehmen. Diese verbietet, dass während der Laufzeit eines Tarifvertrages Arbeitskämpfe geführt werden können, mit dem Ziel, den Tarifvertrag inhaltlich zu verändern. Danach ist es den Tarifvertragsparteien verboten, einen bestehenden Tarifvertrag inhaltlich dadurch infrage zu stellen, dass sie die Änderungen oder Verbesserungen der vertraglich geregelten Gegenstände mit den Mitteln des Arbeitskampfes erreichen wollen (BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734; BAG v. 24.4.2007, DB 2007, 1924; BAG v. 19.6.2007, NZA 2007, 1055). Damit schützt der Tarifvertrag die Mitglieder der Tarifvertragsparteien davor, hinsichtlich der tariflich geregelten Materie mit Arbeitskampfmaßnahmen konfrontiert zu werden. Dies gilt auch, wenn ggü. einem verbandsangehörigen Arbeitgeber ein Firmentarifvertrag erstreikt werden soll mit dem Ziel, einen Verbandstarifvertrag zu verändern (BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734).
Rz. 19
Auf der anderen Seite verbietet die Friedenspflicht nicht, dass Streiks zur Durchsetzung von tariflichen Regelungen, die nicht durch einen gültigen, d.h. nicht nur nachwirkenden, Tarifvertrag geregelt sind, durchgeführt werden können (BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, DB 2007, 1924; BAG v. 10.12.2002, NZA 2003, 734; BAG v. 27.6.1989, DB 1989, 2228; Wendeling-Schröder, NZA 1998, 624).
Rz. 20
Die Friedenspflicht bindet nämlich nur die vertragsschließenden Tarifvertragsparteien wie die Gewerkschaft und den Arbeitgeberverband und im Fall eines Firmentarifvertrages nur den Arbeitgeber und nicht ihre einzelnen Mitglieder (BAG v. 17.12.1958, AP Nr. 3 zu § 1 TVG Friedenspflicht). Eine Friedenspflicht gilt nicht zugunsten von sog. OT-Mitgliedern. Wechselt ein Unternehmen während laufender Tarifverhandlungen innerhalb eines Arbeitgeberverbandes von einer Mitgliedschaft mit Tarifbindung in eine ohne (OT-Mitgliedschaft) und informiert es die Gewerkschaft über diesen Statuswechsel, sind spätere gegen dieses Unternehmen gerichtete Arbeitskampfmaßnahmen zum Abschluss eines Verbandstarifvertrages unzulässig (BAG v. 19.6. 2012 – 1 AZR 775/11).
Gleichfalls werden durch die Friedenspflicht die nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer nicht gebunden. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände schließen Tarifverträge im eigenen Namen ab und nicht in Vertretung ihrer Mitglieder. Eine Schranke ergibt sich aber aus Folgendem: Nach der Rspr. des BAG sind Arbeitnehmer nur zum Streik berechtigt, wenn sie von der Gewerkschaft dazu aufgerufen werden. Ist die Gewerkschaft aber hierdurch aufgrund der Friedenspflicht gehindert, kann es nicht zu einem Streik der Gewerkschaftsmitglieder kommen. Auch für den Fall, dass der Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt worden ist, besteht die Friedenspflicht nur für die tarifvertragsschließenden Parteien, nicht für eine andere Gewerkschaft, die versucht, im Geltungsbereich des allgemeinverbindlichen Tarifvertrages einen anderen Tarifvertrag durchzusetzen. Eine generelle Pflicht hingegen, die während der Laufzeit eines Tarifvertrages Arbeitskämpfe auch für andere tarifvertragliche Regelungen zu unterlassen gebietet, besteht nicht, es sei denn, sie ist zwischen den Tarifvertragsparteien eigens und ausdrücklich vereinbart worden (BAG v. 31.10.1958, AuR 1959, 339; BAG v. 10.12.2002, NZA 2003, 734).
Rz. 21
Die relative Friedenspflicht bezieht sich nicht nur auf normative Regelungen eines Tarifvertrages, sondern auch auf Tarifverträge mit bloß schuldrechtlicher Wirkung. Daraus folgt, dass während der Laufzeit eines schuldrechtlichen Tarifvertrages Arbeitskämpfe, die auf eine Änderung des Vertrages abzielen, unzulässig sind. Auch insoweit ist die Friedenspflicht relativ. Aus Vereinbarungen hingegen, die keinen Tarifvertragscharakter haben, erwächst keine den Tarifverträgen immanente Friedenspflicht. Dies kann sich allenfalls aus einer Auslegung der Vereinbarung und des daraus zu ermittelnden Willen der Tarifparteien ergeben. Das BAG sieht diese Grundsätze auch nicht durch die ESC eingeschränkt (BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734). Daraus folgt zugleich, dass Streiks für Gegenstände, die nicht durch einen...