A. Einschränkung der Äquivalenztheorie im Verkehrsrecht
Rz. 1
Im Verkehrsrecht erfährt die ansonsten geltende Äquivalanztheorie (conditio sine qua non) zwei wesentliche Einschränkungen: Der durch ein Fehlverhalten eingetretene Erfolg darf dem Täter nur zugerechnet werden, wenn der Verstoß in einer kritischen Verkehrslage begangen wurde und bei verkehrsgerechtem Verhalten der gleiche Erfolg vermieden worden wäre.
Dies hat entgegen BGH (NJW 1971, 388) auch für einen Trunkenheitsfahrer zu gelten (OLG Hamm zfs 2002, 306).
Rz. 2
Tipp: Illegales Autorennen
Dem mittelbaren Verursacher (hier Teilnehmer eines illegalen Autorennens) kann der Unfallerfolg auch dann nicht zugerechnet werden, wenn der unmittelbare Unfallverursacher eigenverantwortlich gehandelt hat. Das gilt auch, wenn ein unbeteiligter Dritter gefährdet oder geschädigt wird (OLG Stuttgart DAR 2011, 415; a.A. OLG Celle zfs 2012, 468).
B. Kritische Verkehrslage
I. Vorausgehender Verstoß ohne Belang
Rz. 3
Nur eine Sorgfaltspflichtverletzung, die nach Eintritt der konkret kritischen Verkehrslage unmittelbar zum schädlichen Erfolg geführt hat, darf zur Tatbeurteilung herangezogen werden.
Rz. 4
Deshalb kommt es z.B. für die Beurteilung der Kausalität einer Geschwindigkeitsüberschreitung nur darauf an, ob sie noch in der kritischen Verkehrslage selbst vorgelegen hat (BGHSt 33, 61; BGH zfs 2003, 334; NZV 2004, 21). Eine irgendwann vorher begangene Geschwindigkeitsüberschreitung mag zwar äquivalent kausal dafür sein, dass der Täter zur Tatzeit überhaupt am Tatort war; im verkehrsrechtlichen Sinne ist sie jedoch für das spätere Unfallgeschehen nicht kausal, was z.B. OLG Karlsruhe (NJW 1958, 430) übersieht.
II. Beginn der kritischen Verkehrslage
Rz. 5
Entscheidend für die Betrachtung ist der kritische Zeitpunkt, ab dem der Täter verpflichtet gewesen wäre, Maßnahmen zur Abwendung der den Unfall herbeiführenden Gefahren zu treffen (BGHSt 21, 59; 33, 61).
Rz. 6
Fährt z.B. ein Kraftfahrer einen die Fahrbahn überquerenden Fußgänger an, ist ihm dies nur vorwerfbar, wenn die überhöhte Geschwindigkeit in dem Augenblick, in dem der Kraftfahrer bei genügender Aufmerksamkeit das Hindernis erstmals erkennen konnte, für den Unfall ursächlich war (OLG Hamm zfs 1983, 91).
C. Vermeidbarkeit
I. Bei verkehrsgerechtem Verhalten
Rz. 7
Dem Täter muss nicht nur ein schuldhaft begangener Pflichtenverstoß nachgewiesen werden, sondern es muss darüber hinaus feststehen, dass der Erfolg bei verkehrsgerechtem Verhalten nicht eingetreten wäre (BayObLG NZV 1992, 425).
Rz. 8
Genau gesehen kann wegen des Grundsatzes "in dubio pro reo" die Kausalität schon dann nicht mehr angenommen werden, wenn lediglich nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Folgen auch bei verkehrsgerechtem Verhalten eingetreten wären.
II. Gedachter Geschehensablauf
Rz. 9
Dem wirklichen Geschehensablauf muss das bloß vorgestellte Geschehen, wie es eingetreten wäre, wenn der Täter sich rechtlich einwandfrei verhalten hätte, gegenübergestellt werden. Beim gedachten Geschehensablauf darf lediglich der Pflichtenverstoß des Täters hinweggedacht und an seine Stelle das gebotene Verhalten gesetzt werden. Ansonsten darf von der Verkehrssituation nichts weggelassen, ihr nichts hinzugedacht und an ihr nichts verändert werden (BGHSt 33, 61).
III. Keine rückschauende Betrachtung
Rz. 10
Die Frage der Vermeidbarkeit ist nicht rückschauend, sondern von der Sachlage aus zu entscheiden, wie sie sich dem Kraftfahrer vor dem Unfall geboten hat.
Rz. 11
Auch wenn sich später herausstellt, dass bei anderem Verhalten der Unfall verhindert worden wäre, ist dies dem Kraftfahrer dann nicht vorwerfbar, wenn sein Verhalten im Augenblick der Reaktionsaufforderung verständlich und vertretbar war (BGH VRS 59, 804; OLG Hamm NZV 1995, 357), so z.B. wenn er einem von rechts kommenden Fußgänger oder einem Vorfahrtsverletzer nach links ausweicht, der dann auf der linken Fahrbahn erfolgende Zusammenstoß sich aber nicht ereignet hätte, wenn er geradeaus weitergefahren wäre.
Rz. 12
Achtung: Sonderfall "fahrunsicherer Fahrer"
Der BGH normiert für fahrunsichere Kraftfahrer eigene Verhaltensregeln (BGHSt 24, 36; NJW 1971, 388; BGH DAR 2013, 88). Danach muss ein alkoholbedingt fahruntüchtiger Kraftfahrer die Geschwindigkeit seiner herabgesetzten Reaktionsfähigkeit anpassen. Hat er dies nicht getan, soll er wegen fahrlässiger Tötung bzw. Körperverletzung selbst dann verurteilt werden können, wenn ein nüchterner Kraftfahrer bei gleich hoher und zulässiger Geschwindigkeit den Unfall nicht hätte verhindern können (BayObLG zfs 1994, 225).
Dieser Rechtsprechung kann nicht gefolgt werden. Die Rechtsprechung zur Fahrunsicherheit basiert ja gerade auf dem Vorhalt, dass der Kraftfahrer alkoholbedingt nicht in der Lage war, sein Fahrzeug sicher zu führen, ohne dass ihm ein Versagen in der konkreten Situation nachgewiesen werden bräuchte.
Forderte man nun aber umgekehrt von ihm ein so reduziertes Fahrverhalten, dass er auf Gefahren ebenso gut wie ein Nüchterner reagieren könnte, erwartete man von ihm in Wahrheit ein Fahrverhalten, bei dem seine Fahrunsicherheit sich nicht auswirken könnte, ja er eigentlich gar nicht fahrunsicher wäre. Konsequenterweise dürfte er – wenn er sich entsprechend verhält – auch nicht wegen alkoholbedingter Fahrunsicherheit verurteilt ...