Dr. iur. Robert Bauer, Dr. iur. Oliver Bertram
Rz. 451
Nach § 8 Abs. 1 AÜG ist der Verleiher verpflichtet, dem Leiharbeitnehmer für die Zeit der Überlassung an den Entleiher die im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich des Arbeitsentgelts zu gewähren – Gleichstellungsgrundsatz. Nach § 8 Abs. 2 S. 1 AÜG kann ein Tarifvertrag bei Vorliegen weiterer Voraussetzungen hinsichtlich des Arbeitsentgelts vom Gleichstellungsgrundsatz abweichen (vgl. dazu im Einzelnen Rdn 174 ff.). Flankiert ist die Regelung weiterhin von der Drehtürklausel, vgl. § 8 Abs. 3 AÜG.
Rz. 452
§ 8 Abs. 4 S. 1 AÜG beschränkt die Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz hinsichtlich des Arbeitsentgelts durch Tarifvertrag auf die ersten neun Monate der Überlassung. Nach § 8 Abs. 4 S. 2 AÜG ist unter bestimmten Umständen eine längere Abweichung zulässig.
Rz. 453
§ 8 Abs. 4 S. 4 AÜG ordnet für die tarifvertragliche Abweichung hinsichtlich des Arbeitsentgelts vom Gleichstellungsgrundsatz ebenfalls an, dass der Zeitraum vorheriger Überlassungen durch denselben oder einen anderen Verleiher an denselben Entleiher vollständig anzurechnen ist, wenn zwischen den Einsätzen jeweils nicht mehr als drei Monate liegen (dazu im Einzelnen vgl. Rdn 174 ff.).
Rz. 454
Nach § 19 Abs. 2 AÜG werden bei der Berechnung der Überlassungszeiten nach § 8 Abs. 4 S. 1 AÜG Überlassungszeiten vor dem 1.4.2017 ebenfalls nicht berücksichtigt. Auch insoweit sind Inkrafttreten und Vertrauensschutz vereinheitlicht (dazu vorstehend Rdn 448). Nach dem Gesetzeswortlaut werden unabhängig vom Zeitpunkt der Begründung des Leiharbeitsverhältnisses Verleihzeiten vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und anderer Gesetze am 1.4.2017 für die Berechnung der Überlassungszeiten nach § 8 Abs. 4 S. 1 AÜG nicht berücksichtigt. Fraglich ist, ob die Grundsätze aus der Entscheidung des EuGH vom 17.3.2022 zu § 19 Abs. 2 AÜG betreffend die Berechnung der Überlassungshöchstdauer nach § 1 Abs. 1b AÜG (dazu vorstehend Rdn 450) für die Berechnung der Überlassungszeiten nach § 8 Abs. 4 S. 1 AÜG ebenfalls zum Tragen kommen. Immerhin ist der Gleichstellungsgrundsatz in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104 verankert, und der EuGH rekurriert auf Art. 5 Abs. 5 S. 1 der Richtlinie 2008/104, die den Mitgliedstaaten die Verpflichtung auferlegt, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um aufeinanderfolgende Überlassungen eines Leiharbeitnehmers zu verhindern, mit denen die Bestimmungen der Richtlinie 2008/104 insgesamt umgangen werden sollen.
Zwar können die Mitgliedstaaten nach Art. 5 Abs. 4 der Richtlinie 2008/104 vom Grundsatz der Gleichbehandlung nach Abs. 1 abweichen, sofern Leiharbeitnehmern ein angemessenes Schutzniveau gewährleistet wird. Zu den abweichenden Regelungen kann dabei auch eine Wartezeit für Gleichbehandlung zählen. Wenn aber nach Maßgabe der Vorgaben des EuGH ein missbräuchlicher Einsatz aufeinanderfolgender Überlassungen vorläge, könnten unter dem Gesichtspunkt des Missbrauchs Einsatzzeiten vor dem 1.4.2017 auch für die Berechnung der Überlassungszeiten nach § 8 Abs. 4 S. 1 AÜG zu berücksichtigen sein. Andererseits bekräftigt der EuGH in seiner Entscheidung, die Mitgliedstaaten hätten dafür Sorge zu tragen, dass Leiharbeit bei demselben entleihenden Unternehmen nicht zu einer Dauersituation für einen Leiharbeitnehmer werde. Dieser Aspekt trägt indes dem Umstand Rechnung, dass die Überlassung vorübergehend zu sein hat, betrifft also nicht die Frage der Gewährleistung eines Schutzniveaus im Rahmen der Wartezeit für Gleichbehandlung.
Rz. 455
Nach der Gesetzesbegründung stellt die Regelung sicher, dass hinsichtlich der Neuregelung zu Equal Pay nach neun Monaten nur Verleihzeiten ab dem Inkrafttreten des Gesetzes einzurechnen sind. Vor dem Inkrafttreten des Gesetzes bereits zurückgelegte Verleihzeiten berührten die 9-Monatsfrist für Equal Pay daher nicht. Dies ermögliche es Sozialpartnern, Verleihern und Entleihern sowie den betroffenen Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmern, sich auf die geänderte Rechtslage einzustellen.
Rz. 456
Die Abfassung der Übergangsregelung des § 19 Abs. 2 AÜG verlief nicht ohne Umwege. So hatte der Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales hinsichtlich der Möglichkeit der Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz noch keine Übergangsregelung enthalten. Der dortige Entwurf eines neuen § 19 Abs. 2 AÜG hatte lediglich hinsichtlich der Höchstüberlassungsdauer vorgesehen, dass erst Verleihzeiten ab dem Inkrafttreten des Gesetzes einzurechnen sind und insoweit darauf verwiesen, dass die Nichtberücksichtigung von bereits vor dem Inkrafttreten des Gesetzes zurückgelegten Verleihzeiten es Verleihern und Entleihern sowie den betroffenen Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmern ermögliche, sich auf die geänderte Rechtslage einzustellen (dazu Rdn 450). Damit hätte ein großer Teil der Leiharbeitnehmer, die nach der bisherigen Gesetzeslage aufgr...