Dr. iur. Kerstin Diercks-Harms, Dr. iur. Rüdiger Brodhun
Rz. 30
Der Rechtsanwalt muss das Fristenwesen in seiner Kanzlei so organisieren, dass Fehler vermieden werden und ein Fristversäumnis ausgeschlossen ist. Ihm steht die Art und Weise der Fristenkontrolle frei, weil es keine vorgeschriebenen oder allgemein üblichen Verfahren gibt. Wird die Handakte eines Rechtsanwalts allein elektronisch geführt, muss sie ihrem Inhalt nach der herkömmlich geführten entsprechen. Sie muss speziell zu Rechtsmittelfristen und deren Notierung ebenso wie diese verlässlich Auskunft geben können und darf keine geringere Überprüfungssicherheit bieten als ihr analoges Gegenstück. Auch insoweit wird also ein abgestuftes System der Postausgangskontrolle in der Kanzlei verlangt, die Sicherheit der Überprüfung darf der manuellen Führung eines Postausgangsbuchs in nichts nachstehen.
Nach der Rechtsprechung des BGH muss bei der Fristeingabe in den elektronischen Fristenkalender eine Kontrolle durch einen Ausdruck der eingegebenen Einzelvorgänge oder eines Fehlerprotokolls erfolgen. Unterbleibt eine derartige Kontrolle, sei ein anwaltliches Organisationsverschulden gegeben. Die gestellten Anforderungen sind dabei sehr hoch. Der BGH nimmt an, dass dann, wenn die Fristeingabe in den elektronischen Fristenkalender und die anschließende Eingabekontrolle in zwar mehrstufigen, aber ausschließlich EDV-gestützten und jeweils nur kurze Zeit benötigenden Arbeitsschritten am Bildschirm durchgeführt werden, eine erhöhte Fehleranfälligkeit bestehe. Den Anforderungen, die an die Überprüfungssicherheit der elektronischen Kalenderführung zu stellen sind, wird durch eine solche Verfahrensweise nicht genügt.
In jedem Fall muss der Rechtsanwalt durch organisatorische Maßnahmen sicherstellen, dass auch bei unerwarteten Störungen des Geschäftsablaufs, z.B. bei Erkrankung, Arbeitsüberlastung usw., die Fristen eingehalten werden. Nur ein plötzliches und unvorhersehbares Ereignis kann daher den Rechtsanwalt entlasten.
Rz. 31
Übernimmt der Rechtsanwalt die Fristenkontrolle für fristgebundene Schriftsätze im Einzelfall selbst, muss er auch persönlich für eine wirksame Ausgangskontrolle sorgen. Hierzu gehört bei der Übermittlung per Telefax, dass er sich vor Löschung der Frist im Fristenkalender darüber Klarheit verschafft, dass ein ordnungsgemäßes Sendeprotokoll und eine Empfangsbestätigung vorliegen.
Rz. 32
Zu den nicht auf das Büropersonal übertragbaren Aufgaben gehört die Bestimmung der Art und des Umfangs des gegen eine gerichtliche Entscheidung einzulegenden Rechtsmittels. Wenn dem Rechtsanwalt die Akte wegen einer fristgebundenen Prozesshandlung zur Bearbeitung oder Unterschrift vorliegt, muss er selbst prüfen, ob das Fristende richtig ermittelt und eingetragen wurde.
Eine Partei und damit auch der Rechtsanwalt darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass im Bundesgebiet werktags – innerhalb der Briefkastenleerungszeiten – aufgegebene Postsendungen am folgenden Werktag ausgeliefert werden. Ohne konkrete Anhaltspunkte muss beispielweise ein Rechtsmittelführer deshalb nicht mit Postlaufzeiten rechnen, die die ernsthafte Gefahr der Fristversäumung begründen.
Rz. 33
Einfache Tätigkeiten darf der Rechtsanwalt aber auch delegieren. Hierzu gehört die Fristenkontrolle, welche einer gut ausgebildeten, als gewissenhaft erprobten und sorgfältig überwachten Bürokraft nach Ablauf einer beanstandungsfreien sechsmonatigen Probezeit anvertraut werden kann. Dann muss aber durch geeignete organisatorische Maßnahmen sichergestellt sein, dass die Fristen zuverlässig festgehalten und kontrolliert werden. Genügt der Rechtsanwalt diesen Voraussetzungen und unterläuft einer zuverlässigen Büroangestellten dennoch ein Fehler (wie z.B. die Verwendung einer unrichtigen Telefaxnummer), ist ihm dieses Versehen nicht zuzurechnen. Ein Rechtsanwalt kann grundsätzlich auch darauf vertrauen, dass sein bisher zuverlässiger Mitarbeiter eine Einzelanweisung befolgt. Deshalb braucht er sich anschließend nicht über die Ausführung seiner Anweisung zu vergewissern. Sind einem Rechtsanwaltsfachangestellten in der Vergangenheit bei der Fertigung oder Versendung fristgebundener Schriftsätze Fehler unterlaufen, muss der Rechtsanwalt durch organisatorische Maßnahmen sicherstellen, dass sich solche nicht wiederholen.
Rz. 34
Der Rechtsanwalt kann bei einer Fristversäumung einer Notfrist oder anderen in § 233 ZPO genannten Fristen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragen, wenn ihn kein eigenes Verschulden trifft und ihm ein Verschulden seiner Bürokraft nicht zuzurechnen ist, weil er die erforderlichen organisatorischen Maßnahmen ergriffen hat. Wenn ihm wegen eines Büroversehens eine Fristsache als nicht fristgebunden vorgelegt wird, verschuldet er aber die Versäumung einer Frist, wenn er sich nicht in angemessener Zeit durch einen Blick in die Akten wenigstens davon überzeugt, was zu tun ist, und wie lange er sich mit der Bearbeitung Zeit lassen kann. Er darf die ihm vorgelegten Akten jedenfalls nicht...