Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 40
Besondere Schwierigkeiten ergeben sich, wenn ein Kläger als Unfallfolge eine neurotische Erkrankung behauptet; sie ist nicht selten Folge von HWS-Schleudertraumata. Häufig wird aufgrund unangemessener Erlebnisverarbeitung des Unfallgeschehens eine psychische Fehlentwicklung, eben eine Neurose ausgelöst. Nach der Rspr. des BGH haftet der Schädiger für eine derartige seelische Reaktion, auch wenn sie nicht auf eine organische Schädigung zurückzuführen ist.
Dem Verletzten kann dann vom Schädiger nicht entgegengehalten werden, er sei psychisch labil und nur deshalb habe der Unfall die Neurose auslösen können.
BGH NJW 1996, 2425, 2426:
Zitat
Die Zurechnung solcher Schäden scheitert nicht daran, dass sie auf einer konstitutiven Schwäche des Verletzten beruhen. Der Schädiger kann sich nach ständiger Rechtsprechung nicht darauf berufen, dass der Schaden nur deshalb eingetreten [sei] oder ein besonderes Ausmaß erlangt hat, weil der Verletzte infolge von körperlichen Anomalien oder Dispositionen zur Krankheit besonders anfällig gewesen sei. Wer einen gesundheitlich geschwächten Menschen verletzt, kann nicht verlangen, so gestellt zu werden, als wenn der Betroffene gesund wäre […]
Einschränkend BGH NJW 2004, 1945:
Zitat
Besteht bei zwei voneinander unabhängigen Schadensfällen (hier: HWS-Verletzungen) der Beitrag des Erstunfalls zum endgültigen Schadensbild nur darin, dass eine anlagebedingte Neigung des Geschädigten zu psychischer Fehlverarbeitung geringfügig verstärkt wird, so reicht das nicht aus, um eine Haftung des Erstschädigers für die Folgen des Zweitunfalls zu begründen […]
Es liegt auf der Hand, dass der Nachweis der Ursächlichkeit des Unfallereignisses für die psychische Erkrankung häufig schwer zu führen ist. Dem Geschädigten kommt aber auch insoweit wiederum die Beweiserleichterung des § 287 ZPO zur Hilfe. Wenn das Auftreten der neurotischen Beeinträchtigungen in einem nahen zeitlichen Zusammenhang mit dem Unfallereignis steht und ein Sachverständiger bekundet, dass die Ursächlichkeit des Unfallereignisses eine gewisse Wahrscheinlichkeit hat, müsste der Beklagte schon besondere Gründe aufzeigen, wenn die Erkrankung nicht als Unfallfolge gewertet werden soll.
Rz. 41
Das ist aber dann anders, wenn die psychischen Beschwerden nach einem Unfall auftreten, der normalerweise gar nicht zu einer HWS-Verletzung führen kann; also etwa bei einem Auffahrunfall mit einer kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung von bis zu 10 km/h.
OLG Hamm r+s 2000, 502, 503:
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Zwar setzt ein sog. "HWS-Schleudertrauma" nicht voraus, dass es im HWS-Bereich unfallbedingt nachweislich zu einer Strukturveränderung gekommen ist. I.S.d. § 823 Abs. 1 BGB besteht die Körperverletzung in der Befindlichkeitsbeeinträchtigung und nicht in dem morphologischen Substrat, durch das diese ausgelöst wird. Denn nicht die Materie, sondern die körperliche Befindlichkeit ist das geschützte Rechtsgut (vgl. BGH VersR 1994, 55; ferner Senat in VersR 99, 990). Diese Befindlichkeitsbeeinträchtigung darf allerdings nicht nur ganz unwesentlich sein. Vor allem muss es aber um eine körperliche Befindlichkeitsbeeinträchtigung gehen und nicht lediglich um eine psychische. Denn es geht um die körperliche Integrität und nicht um die psychische. […] Auch muss diese nicht ganz unwesentliche Befindlichkeitsbeeinträchtigung im Wege des Vollbeweises nach § 286 ZPO nachgewiesen werden; d.h. ihr Vorliegen muss mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen; eine erhebliche Wahrscheinlichkeit reicht insoweit nicht aus.
Das OLG Hamm bestätigt deshalb die Abweisung der Klage eines zum Unfallzeitpunkt 43-jährigen Diplomingenieurs, auf dessen vor einer Ampel haltenden Pkw ein anderer Pkw mit einer Geschwindigkeit von 7 km/h aufgefahren war und der vier Stunden nach dem Unfall Beschwerden im Schulter- und Nackenbereich verspürte und seither über weitere Beeinträchtigungen klagt. Obwohl das OLG nicht davon ausgeht, dass der Kläger simuliert, hat es seine Klage abgewiesen und sich dafür u.a. auf die oben bereits zitierte Entscheidung des BGH berufen. Denn zwar setze die Ersatzpflicht nicht voraus, dass die psychisch bedingten Ausfälle eine organische Ursache hätten, aber BGH NJW 1996, 2425:
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Handelt es sich bei den psychisch vermittelten Beeinträchtigungen hingegen nicht um schadensausfüllende Folgewirkungen einer Verletzung, sondern treten sie haftungsbegründend erst durch die psychische Reaktion auf ein Unfallgeschehen ein, wie dies in den sog. Schockschadensfällen regelmäßig und bei Aktual- und Unfallneurosen häufig der Fall ist, so kommt eine Haftung nur in Betracht, wenn die Beeinträchtigungen selbst Krankheitswert besitzen, also eine Gesundheitsbeeinträchtigung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB darstellen […]