Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 63
Wendet man die Grundsätze des Anscheinsbeweises auf einen Auffahrunfall an, so geht die Rspr. von der allgemeinen Erfahrung aus, dass der auf den Vordermann Auffahrende in der Regel entweder zu schnell oder aber unaufmerksam gefahren ist. Daraus ergibt sich der allgemein anerkannte Anscheinsbeweis: "Wer auffährt, hat Schuld."
Rz. 64
Unter diesen Erfahrungssatz wird der Sachverhalt wie unter eine Rechtsnorm subsumiert. Zwar hat der BGH wiederholt darauf hingewiesen – so schon in der zitierten Entscheidung – dass zu den für die Anwendung des Erfahrungssatzes zu fordernden Voraussetzungen die Überzeugung des Gerichts hinzukommen müsse, dass der Ursachenverlauf in der konkret zu entscheidenden Sache so wie in den vergleichbaren Fällen sei. Das passt aber nicht zu den – wohl auch heute noch – zutreffenden Ausführungen des früheren Vorsitzenden des 6. Zivilsenates des BGH auf dem Karlsruher Forum 1989, dass man der – dogmatisch sehr umstrittenen – Rechtsfigur des Anscheinsbeweises nur bedürfe, weil es den Instanzrichtern häufig an Entscheidungsfreude mangele.
Diese Richter sollen durch die Rechtsfigur des Anscheinsbeweises gerade in der Überzeugungsbildung entlastet werden.
Rz. 65
Obwohl also dem Gericht durchaus bewusst ist, dass der Erfahrungssatz lediglich eine hohe Wahrscheinlichkeit begründet – aufgrund besonderer Umstände der Geschehensablauf ganz anders gewesen sein kann –, gibt das Gericht sich in dem Beispielsfall zunächst mit dem schlichten Vortrag des Klägers zufrieden, der Beklagte sei auf sein Fahrzeug aufgefahren.
Der Beklagte muss nun seinerseits einen vom gewöhnlichen Geschehensablauf abweichenden Hergang vortragen, um das Gericht zu weiterer Sachaufklärung zu veranlassen. Er könnte etwa geltend machen – so eine häufige Einlassung in der Praxis:
Der Kläger fuhr zunächst hinter mir; dann setzte er zum Überholen an; wegen Gegenverkehrs auf der Überholspur ist er unmittelbar vor mir eingeschert und hat obendrein wegen eines plötzlich auftauchenden Hindernisses gebremst; deshalb war es mir unmöglich, mein Fahrzeug rechtzeitig zum Halten zu bringen.
Dieser Vortrag wäre geeignet, den gegen den Beklagten sprechenden Anscheinsbeweis zu erschüttern. Der Beklagte müsste diesen Sachverhalt aber nicht nur vortragen, sondern im Bestreitensfalle auch beweisen.
Rz. 66
Da der Anscheinsbeweis aber nur erschüttert, nicht widerlegt zu werden braucht, braucht der Beklagte nicht alle Einzelheiten nachzuweisen, also nicht exakt zu beweisen, mit welchem Abstand sich der Kläger vor ihm eingeordnet hat.
Kommt es auf diese Frage an, so wäre sie durch weitere Beweiserhebungen zu klären und das Beweisergebnis gemäß § 286 ZPO frei zu würdigen.
Da nur ein ernsthaft in Betracht kommender Geschehensablauf den Anscheinsbeweis zu erschüttern geeignet ist, ist der Unterschied zum Führen des Gegenbeweises in der Praxis nicht so groß. Die Verteidigungsstrategie verspricht deshalb mehr Erfolg, wenn schon die Voraussetzungen in Frage gestellt werden können, aus denen sich ein Anscheinsbeweis ableiten lässt. Bei einem Auffahrunfall ist z.B. zu fragen, ob der Vortrag des Klägers überhaupt als Auffahren im Sinne des Erfahrungssatzes zu werten ist, auf den sich der Anscheinsbeweis stützt. Oder ob nicht etwa ein Einbiegen des Klägers aus der Seitenstraße erfolgte. Denn die Regeln des Anscheinsbeweises kommen nur zum Tragen, wenn es ein Auffahrunfall üblicher Art war. Ist das streitig, muss der Kläger zunächst einmal einen Sachverhalt beweisen, dem das Typische eines Auffahrunfalles zukommt; erst dann ist es Sache des Beklagten, den dadurch begründeten Anscheinsbeweis zu erschüttern.
Rz. 67
Der Grundsatz "Wer auffährt, hat Schuld" gilt mithin dann nicht, wenn der Anscheinsbeweis (nach den allgemeinen Regeln) erschüttert werden kann. Beispielsweise gilt die Regel "Wer auffährt, hat Schuld" nicht, wenn das Fahrzeug, auf das der Hintermann auffährt, plötzlich die Fahrspur gewechselt und dadurch den Bremsweg verkürzt hat; auch der Linksabbieger kann sich nicht auf den Anscheinsbeweis berufen.
Mit plötzlichem Anhalten des Vorausfahrenden muss gerechnet werden. Lediglich mit nicht vorausschaubarem, ruckartigem Anhalten braucht nicht gerechnet zu werden. Ist einer Fahrzeugkollision ein Schleudervorgang beider unfallbeteiligter Fahrzeuge aufgrund einer Ölspur vorausgegangen, gilt der Anscheinsbeweis nicht zu Lasten des Auffahrenden.
Eine Mithaftung des abbremsenden Vordermannes kommt in Betracht, wenn er ohne zwingenden Grund stark abbremst, etwa weil er eine Parkmöglichkeit zu spät erkannt hat.
LG Itzehoe zfs 1997, 7:
Zitat
Wenn ein Fahrzeugführer behauptet, er sei rechtzeitig hinter einem anderen Fahrzeug zum Stehen gekommen und dieses habe dann einen Unfallschaden durch Zurückrollen verursacht, hat er diese Behauptung zwecks Beseitigung des gegen ihn sprechenden Anscheinsbeweises eines Auffahrunfalls durch schuldhaftes Verhalten zur vollen Überzeugung des Gerichts zu beweisen.
Beim Auffahren, auch im Kolonnenver...