Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 70
Der BGH und ihm folgend die überwiegende Rspr. wendet die Regeln des Anscheinsbeweises auch auf die sogenannten "gestellten Unfälle" an. An den Nachweis eines gestellten Unfalls sind keine überzogenen Anforderungen zu stellen. Es ist insbesondere nicht ein logisch oder naturwissenschaftlich zwingender Nachweis erforderlich. Die Überzeugung des Gerichts kann vielmehr durch eine Häufung unausgeräumt gebliebener Ungereimtheiten und durch typische Anzeichen, die nach der Lebenserfahrung für eine Unfallmanipulation sprechen, begründet werden. Dabei mögen die einzelnen Indiztatsachen isoliert für sich betrachtet auch einer anderen Deutung des Geschehens zugänglich sein. Die Gesamtheit aller Indizien in ihrer ungewöhnlichen Häufung und ihrem stimmigen, den Beweiswert steigernden Zusammenwirken können jedoch die Überzeugung des Gerichts begründen, dass ein gestellter, willentlich herbeigeführter Schadensfall vorliegt.
Wenn eine Reihe von bestimmten Indikatoren vorliegt, sollen diese also den Schluss darauf zulassen, dass bei einem Zusammenstoß zweier Kraftfahrzeuge die Fahrer den Unfall zum Nachteil der hinter einem der Beteiligten stehenden Versicherung abgesprochen haben.
In der Praxis gibt es zumeist folgenden Prozessverlauf:
Der Schädiger und die Versicherungsgesellschaft werden von dem Unfallgegner verklagt. Der beklagte Fahrer lässt Versäumnisurteil gegen sich ergehen, während die mitbeklagte Versicherung gegenüber der Klageforderung einwendet, der Unfall sei abgesprochen gewesen. Für diese Behauptung trägt sie Anhaltspunkte vor, die für einen vorgetäuschten Unfall typisch sind und deshalb die Anwendung der Regeln des Anscheinsbeweises rechtfertigen.
Rz. 71
Solche Anhaltspunkte sind:
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abgelegener, ruhiger Unfallort, |
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Nachtzeit, |
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keine Zeugen, |
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Schädiger und Geschädigter kennen sich, |
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Polizei wird nicht eingeschaltet, |
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werthaltiges Fahrzeug mit erheblicher Laufleistung, |
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Klein-Lkw wurde für einen Umzug gemietet, aber dann doch nicht für diesen Zweck verwandt, |
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Schädiger gibt am Unfallort Schuldanerkenntnis ab, vgl. auch Rdn 308, |
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Unfallbeteiligte sind vorbestraft, |
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Unfallbeteiligte sind verschuldet, |
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Schädiger lässt Versäumnisurteil gegen sich ergehen. |
OLG Hamm VersR 2000, 252:
Zitat
Als Indizien für einen manipulierten Unfall sind folgende Umstände zu werten: Eine Unfallkonstellation, bei der der Geschädigte dem Grunde nach volle Haftung der Gegenseite erwarten kann, Abwesenheit unbeteiligter Zeugen, begrenzte Bereitschaft zur Sachaufklärung, widersprüchliche Darstellungen zum Unfallgeschehen, fehlender Grund für den behaupteten Fahrfehler, wertloses Schädigerfahrzeug, Beteiligung von Personen, die erfahrungsgemäß aus finanziellen Gründen leicht zur vorsätzlichen Herbeiführung von Unfällen gewonnen werden können, Beteiligung des Geschädigten an mehreren ähnlichen Unfällen sowie schneller Weiterverkauf des Schädigerfahrzeugs kurz nach dem Unfall.
Rz. 72
Selbstverständlich kann nicht das Vorliegen eines dieser Anhaltspunkte den Anscheinsbeweis für einen vorgetäuschten Unfall begründen. Anders aber, wenn diese Anhaltspunkte gehäuft auftreten; einzelne Indizien können ein Mosaik bilden, welches im Gesamtbild unzweideutig erkennen lässt, dass der Schädiger den Unfall konstruiert hat. Den dann begründeten Anscheinsbeweis muss der Schädiger zu erschüttern suchen, indem er entweder die Anhaltspunkte bestreitet oder aufzeigt, dass sie trotz ihrer Häufung ausnahmsweise nicht den Schluss auf ein Täuschungsmanöver zulassen.
Die Frage des Anscheinsbeweises stellt sich im Übrigen erst, wenn feststeht, dass es überhaupt einen Unfall gegeben hat. Das ist nicht schon deshalb selbstverständlich, weil ein beschädigtes Fahrzeug vorgefunden wird und ein anderer einräumt, dieses beschädigt zu haben. Es kann auch so gewesen sein, dass ein schon beschädigtes Fahrzeug an die angebliche Unfallstelle gebracht worden ist.
Wird von dem beklagten Versicherer eingeräumt, dass das Fahrzeug des Klägers von dem Fahrzeug des Versicherungsnehmers beschädigt worden ist und macht er zur Verteidigung lediglich geltend, dass der Unfall abgesprochen war, muss er diese Behauptung gegenüber dem auf § 7 StVG gestützten Anspruch beweisen.
Bestreitet er hingegen, dass es überhaupt einen Unfall gegeben hat – weil die Fahrzeuge schon beschädigt an die Unfallstelle gebracht worden sein können –, hat der Kläger den behaupteten Unfall zu beweisen. Verbleibende Zweifel gehen zu seinen Lasten.
Nach dem OLG Köln lässt der Umstand, dass der Schädiger bei dem Unfall selbst ein Schleudertrauma erleidet, nicht zwingend darauf schließen, dass der Unfall unfreiwillig war.
Rz. 73
Es mehren sich Stimmen, die den gestellten Unfall nicht am Anscheinsbeweis, sondern am Indizienbeweis gemessen sehen wollen.
Sehr instruktiv dazu die Entscheidung des OLG Düsseldorf, r+s 1996, 132 m. Anm. Lemcke, bei der ein Klein-Lkw gegen das Heck eines geparkten Pkw Jaguar XJ 3,6 älteren Baujahrs geprallt war. Der Unfall hätte sich unschwer vermeiden lassen...