Marnie Plehn, Peter Hützen
Rz. 105
Grobe Fehlerhaftigkeit ist bei einer Sozialauswahl in einem Interessenausgleich mit Namensliste anzunehmen, wenn ein evidenter, ins Auge springender schwerer Fehler vorliegt und die Gewichtung der Kriterien Alter, Betriebszugehörigkeit und Unterhaltspflichten jede Ausgewogenheit vermissen lässt. Grobe Fehlerhaftigkeit ist demnach bspw. anzunehmen, wenn die Betriebspartner
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den auswahlrelevanten Personenkreis der austauschbaren und damit vergleichbaren Arbeitnehmer willkürlich bestimmt oder nach unsachlichen Gesichtspunkten eingegrenzt haben (BAG v. 28.8.2003 – 2 AZR 368/02, NZA 2004, 432 = NZI 2004, 338 = ZIP 2004, 1271), also bei der Bestimmung des Kreises vergleichbarer Arbeitnehmer die Austauschbarkeit offensichtlich verkannt worden ist (BAG v. 17.11.2005, DZWIR 2006, 284 m. Anm. Bichlmeier = NZA 2006, 661 = ZInsO 2006, 724 = ZIP 2006, 774, unter Rn 30), |
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die erforderlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen der herauszunehmenden Arbeitnehmer nicht nach sachlichen Gesichtspunkten konkretisiert haben (LAG Hamm v. 2.9.1999, ZInsO 2000, 352), d.h. bei der Anwendung des Ausnahmetatbestands des § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG die betrieblichen Interessen augenfällig überdehnt worden sind (Bader, NZA 2004, 65; zust. BAG v. 17.11.2005, DZWIR 2006, 284 m. Anm. Bichlmeier = NZA 2006, 661 = ZInsO 2006, 724 = ZIP 2006, 774, unter Rn 30), |
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Altersgruppen, innerhalb derer die Sozialauswahl durchgeführt werden soll, in völlig wahllos aufeinander folgenden Zeitsprüngen (bspw. wechselnd in 12er, 8er und 10er Jahresschritten) gebildet haben (LAG Hamm v. 5.6.2003, DZWIR 2004, 153 m. Anm. Weisemann = LAGReport 2004, 132 m. Anm. Graner = ZInsO 2003, 1060) oder |
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eine der vier (bzw. im Fall des § 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 InsO drei) Sozialkriterien überhaupt nicht berücksichtigt oder ihm ein völlig ungenügendes Gewicht oder zusätzlichen Auswahlkriterien eine überhöhte Bewertung beigemessen haben (BAG v. 21.1.1999, NZA 1999, 866 = ZInsO 1999, 543; BAG v. 2.12.1999, NZA 2000, 531 = ZInsO 2000, 411 = ZIP 2000, 676; LAG Hamm v. 6.7.2000, DZWIR 2001, 107, 114 m. Anm. Weisemann = ZInsO 2000, 569). |
Rz. 106
Die Darlegungs- und Beweislast für die Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl liegt auch bei Massenentlassungen gem. § 1 Abs. 3 S. 3 Hs. 1 KSchG grds. beim Arbeitnehmer (Bader, NZA 1996, 1125, 1133; Giesen, ZfA 1997, 145, 175). Zu beachten ist aber, dass der Insolvenzverwalter nicht nur bei Einzelkündigungen, sondern auch bei Massenentlassungen dem Arbeitnehmer auf dessen Verlangen hin gem. § 1 Abs. 3 S. 1 Hs. 2 KSchG die Gründe anzugeben hat, die zu der getroffenen sozialen Auswahl geführt haben (ArbG Hamburg v. 6.7.1998, NZA-RR 1999, 29); dazu gehören ggf. auch betriebliche Interessen, die den Insolvenzverwalter zur Ausklammerung an sich vergleichbarer Arbeitnehmer aus der sozialen Auswahl gem. § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG veranlasst haben (BAG v. 17.11.2005, DZWIR 2006, 284 m. Anm. Bichlmeier = NZA 2006, 661 = ZInsO 2006, 724 = ZIP 2006, 774).
Rz. 107
Der Auskunftsanspruch des Arbeitnehmers nach § 1 Abs. 3 S. 1 Hs. 2 KSchG führt i.V.m. § 138 ZPO nach der Rechtsprechung des BAG im Kündigungsschutzprozess zu einer abgestuften Darlegungs- und Beweislast bei der Sozialauswahl (BAG v. 24.5.2005, AP Nr. 284 zu § 613a BGB; SPV/Preis, KSchR, Rn 1135). Der Arbeitnehmer muss zunächst die Fehlerhaftigkeit der getroffenen sozialen Auswahl behaupten und die ihm bekannten Mängel bzw. Versäumnisse bei der Sozialauswahl vortragen (BAG v. 8.8.1985, NZA 1986, 679). Kann der Arbeitnehmer keine Angaben zu den Einzelheiten der sozialen Auswahl des Arbeitgebers bzw. dessen Fehler bei der Sozialauswahl machen, muss er ihn auffordern, seine Überlegungen hierzu offenzulegen (BAG v. 21.7.1988, NZA 1989, 264). Die Darlegungslast geht damit auf den Arbeitgeber über. Kommt der Arbeitgeber der ihm im Rahmen seiner Auskunftspflicht obliegenden Darlegungslast nicht oder nicht vollständig nach, ist es unstreitig, dass der Arbeitgeber soziale Gesichtspunkte nicht ausreichend berücksichtigt hat (BAG v. 15.6.1989 – 2 AZR 580/88, NZA 1990, 226; KR/Griebeling, § 1 KSchG Rn 686; ErfK/Oetker, § 1 KSchG Rn 171). Kommt der Arbeitgeber seiner Auskunftspflicht nach und legt seine Überlegungen zur sozialen Auswahl offen, ohne dass der Vortrag des Arbeitgebers Auswahlfehler erkennen lässt, fällt die Darlegungslast wieder an den Arbeitnehmer zurück (BAG v. 15.6.1989 – 2 AZR 580/88, NZA 1990, 226; KR/Griebeling, § 1 KSchG Rn 687; ErfK/Oetker, § 1 KSchG Rn 171).
Rz. 108
Die Einschränkungen des Kündigungsschutzes nach § 125 InsO ändern nichts an dem System der abgestuften Darlegungs- und Beweislast (FK/Eisenbeis, § 125 InsO Rn 25). Anders als § 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 InsO enthält § 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 InsO keine gesetzliche Vermutung, sondern eine Einschränkung bei der Überprüfung der Sozialauswahl auf grobe Fehlerhaftigkeit. Für § 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 InsO gilt also keine Beweislastumkehr, sondern lediglich ein eingeschränkter Prüfungsmaßstab (HaKo/Ahrendt, § 125 InsO Rn 16). Die Auskun...