Rz. 85

Durch die Leistungsträgerregelung in § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG kann der (vorläufige/endgültige) Insolvenzverwalter (wie außerhalb der Insolvenz der Arbeitgeber) bestimmte Arbeitnehmer, deren Weiterbeschäftigung

wegen ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen oder
zur Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur des Betriebs

im berechtigten betrieblichen Interesse liegt, von der Sozialauswahl ausnehmen.

 

Rz. 86

Der Insolvenzverwalter kann die Herausnahme von Arbeitnehmern aus der Sozialauswahl mit deren besonderen, im Betrieb benötigten "Kenntnissen, Fähigkeiten und Leistungen" begründen. Die als Regelbeispiele genannten Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen eines Arbeitnehmers berechtigen den Arbeitgeber nicht erst dann zur nachträglichen Herausnahme aus dem Kreis der vergleichbaren, in die Sozialauswahl einzubeziehenden Arbeitnehmer, wenn die Weiterbeschäftigung der Arbeitnehmer mit diesen Spezialkenntnissen und -fähigkeiten notwendig oder gar unverzichtbar ist. Vielmehr genügt nach der Neufassung bzw. Wiedereinführung des § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG durch das am 1.1.2004 in Kraft getretene Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt ein "berechtigtes betriebliches Interesse" (Ascheid/Preis/Schmidt/Kiel, § 1 KSchG Rn 675). § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG stellt jedoch (weiterhin) eine Ausnahmevorschrift dar (BAG v. 5.6.2008, BB 2009, 447). Die Auswahl nach sozialen Gesichtspunkten gem. § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG bleibt die Regel (BAG v. 31.5.2007 – 2 AZR 306/06, NZA 2007, 1362). Betriebliche Interessen "berechtigen" den Arbeitgeber bzw. Insolvenzverwalter daher erst dann zur Herausnahme von Arbeitnehmern aus der Sozialauswahl, wenn sie dem Betrieb gemessen an dem Unternehmenszweck einen nicht unerheblichen Vorteil bringen (KR/Griebeling, § 1 KSchG Rn 630). Die Unterschiede zwischen mehreren Arbeitnehmern sind i.R.d. sozialen Auswahl demnach nur beachtlich, wenn kumulativ folgende Voraussetzungen erfüllt sind (so zu § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG a.F.: LAG Hamm v. 23.3.2000, ZInsO 2000, 571):

Es werden überdurchschnittliche oder wesentliche spezielle Fähigkeiten oder Kenntnisse nachgewiesen und
diese werden im Kündigungszeitpunkt im Betrieb aktuell benötigt.
 

Rz. 87

So kann bspw. ein Drucker, der auch noch den Bleisatz beherrscht, gem. § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG nicht mit dieser Zusatzqualifikation einem anderen Drucker vorgezogenen werden, der nur noch im Fotosatz arbeiten kann, wenn die Druckerei keine Bleisatzarbeiten mehr ausführt (Berscheid, BuW 1997, 632, 638). Durch Kenntnisse unterscheiden sich Arbeitnehmer z.B., wenn ein Arbeitnehmer sich durch Teilnahme an Schulungen fortgebildet hat, während andere keine Fortbildungsveranstaltungen besuchten; unter Fähigkeiten fallen vor allem berufliche Qualifikationen und Abschlüsse (Etzel, FAZ Nr. 203 v. 21.10.1996, 10; zust. Berscheid, WiPra 1996, 354, 357; ders., BuW 1997, 632, 635). Aber auch körperliche Eignung zur Erfüllung der Anforderungen der übertragenen Tätigkeit ist damit angesprochen, wie höchstrichterlich in einem anderen Zusammenhang entschieden worden ist (BAG v. 26.10.1995 – 6 AZR 928/94, NZA 1996, 547). Bei den Fähigkeiten kann es sich um solche bei der Wahrnehmung von Führungsaufgaben oder bei dem Umgang mit Mitarbeitern handeln, sie können aber auch Beziehungen oder Geschick im Verhältnis zu Kunden oder Lieferanten betreffen (Grunsky/Moll, Rn 137; zust. Berscheid, BuW 1997, 632, 635). Leistungen des Arbeitnehmers können aus Leistungsbeurteilungen ablesbar sein (Berthel/Berscheid, WPrax 1996, 2, 8; Grunsky/Moll, Rn 136; Sander, BuW 1997, 30, 35; Schwedes, BB Beil. 17/1996, 2, 3).

 

Rz. 88

Besonders in größeren Unternehmen werden fachliche Leistungen und Fähigkeiten sowie Führung (Sozialverhalten) der Arbeitnehmer während des Bestandes eines Arbeitsverhältnisses vielfach oder jedenfalls aus gegebenem Anlass beurteilt und in Personalakten festgehalten. Dieses Recht, Arbeitnehmer zu beurteilen und dies zu dokumentieren, ist allgemein anerkannt. Beurteilungen sollen ein zutreffendes Gesamtbild von der Person, der Tätigkeit und Leistung eines Arbeitnehmers abgeben (BAG v. 9.2.1977, AP Nr. 83 zu § 611 BGB Fürsorgepflicht m. Anm. Crisolli = EzA § 611 BGB Fürsorgepflicht Nr. 21). Solche regelmäßigen Beurteilungen (z.B. im jährlichen Rhythmus) stellen keine Zwischenzeugnisse dar. Sie erleichtern aber dennoch die Zeugniserteilung erheblich und machen die Beurteilungen sicherer und objektiver, sodass ein hierauf aufbauendes Schlusszeugnis eine echte Zusammenfassung vorausgegangener Beurteilungen, also eine Gesamtbeurteilung, darstellen und auch im Insolvenzverfahren vom (vorläufigen/endgültigen) Insolvenzverwalter leicht vorgenommen werden kann. Im Zuge des Auswahlverfahrens innerhalb mehrerer zu bildender "Leistungsgruppen" könnten solche regelmäßigen Beurteilungen fundierte Grundlagen für eine zutreffende Einordnung der Arbeitnehmer und letztendlich für die Sozialauswahl darstellen (Berthel/Berscheid, WPrax 1996, 2, 8).

 

Rz. 89

Für die gerichtliche Überprüfung der getroffenen Sozialausw...

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