Dr. iur. Kerstin Diercks-Harms, Dr. iur. Rüdiger Brodhun
Rz. 81
Nach Zugang einer Ladung zum Termin zur mündlichen Verhandlung, aber auch bereits vorher, kann ein Antrag nach § 128a Abs. 1 S. 1 ZPO auf Gestattung gestellt werden, sich während einer mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Die Verhandlung wird bei einer Gestattung zeitgleich in Bild und Ton an diesem Ort und in das Sitzungszimmer übertragen, § 128a Abs. 1 S. 2 ZPO.
Diese Vorschrift hat insbesondere in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Sie lockert das Erfordernis körperliche Präsenz bei einer mündlichen Verhandlung und damit den Unmittelbarkeitsgrundsatz durch Zulassung einer Bild- und Tonübertragung auf, gestattet also die Zuschaltung einer Partei und/oder ihres Prozessbevollmächtigten per Video in die im Sitzungssaal stattfindende Videoverhandlung. Neben dem technischen ist auch der organisatorische Aufwand des Gerichts beträchtlich; zudem muss sichergestellt werden, dass Verfahrensrechte nicht durch Unzulänglichkeiten bei der technischen Abwicklung oder der Moderation der digitalen Verhandlung beeinträchtigt werden. Eine mündliche Verhandlung nach § 128a Abs. 1 ZPO wird daher nur in Ausnahmefällen angezeigt sein.
Rz. 82
Die Entscheidung über einen solchen Antrag steht im richterlichen Verfahrensermessen; es besteht auch keine Verpflichtung des Gerichts, entsprechende technische Ausrüstungen vorzuhalten. Gemäß § 128a Abs. 3 S. 2 ZPO ist die Ablehnung eines Antrags auf Videoverhandlung unanfechtbar. Andererseits kann das Gericht auch von Amts wegen die Gestattung einer Videozuschaltung beschließen.
Rz. 83
Ein Anwalt kann sich nach einer Gestattung durch richterlichen Beschluss per Video – also von seiner Kanzlei aus – zuschalten. Der Zugeschaltete muss die ganze Verhandlung, also auch alle Beteiligten (insbesondere auch sämtliche Richter einer Kammer/eines Senats), jederzeit sehen und hören können. Scheitert eine ordnungsgemäße Übertragung an technischen Schwierigkeiten, die dem Zugeschalteten nicht vorwerfbar sind, ist seitens des Gerichts Vertagung anzuordnen; diese ist deshalb vom Anwalt zu beantragen. Das OLG Celle hat im Zusammenhang der Voraussetzungen einer Säumnis zur Frage des (Un-)Verschuldens ausgeführt:
Rz. 84
Zitat
"Ob die Säumnis eines Verfahrensbeteiligten, der an einer nach § 128a Abs. 1 ZPO durchgeführten Verhandlung nicht teilnimmt, weil aus technischen Gründen eine Bild- und Tonübertragung nicht zustande kommt, als schuldhaft anzusehen ist, hängt davon ab, ob ein aufgetretenes technisches Problem dem Beteiligten zugerechnet werden kann (...). Dies ist eine Wertungsfrage, bei deren Beurteilung der Zweck der Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung nach § 128a Abs. 1 ZPO zu berücksichtigen ist. (...) Vorbehaltlich der im Rahmen des § 337 S. 1 ZPO vorzunehmenden Würdigung des Einzelfalls (...) ist eine Partei daher regelmäßig ohne ihr Verschulden am Erscheinen verhindert, wenn sie an der Verhandlung nicht teilnehmen kann, weil trotz Beobachtung der als erforderlich anzusehenden Sorgfalt (...) aufgrund nicht mehr aufklärbarer technischer Umstände eine Bild- und Tonübertragung nicht zustande kommt."
Rz. 85
Vor einem eigenen Antrag sollte ein Anwalt erwägen, ob eine solche Gestattung (und die damit verbundene Zeit- und Kostenersparnis im Hinblick auf die Hin- und Rückfahrt) dem Interesse seines Mandanten mit dem mit der Videoverhandlung verbundenen Verlust an Unmittelbarkeit der Verhandlung gerecht wird. Hält das Gericht ein persönliches Erscheinen der Partei nach § 141 ZPO für geboten, verbietet sich in der Regel bereits eine Videoverhandlung. Auch für Vergleichsgespräche, persönliche Erörterungen des Anwalts mit seiner Partei und bei einer anstehenden Beweisaufnahme ist eine Videoverhandlung eher abträglich.