Rz. 104
In den folgenden Fällen hat die Rechtsprechung grobe Fahrlässigkeit bejaht. Wie bereits erläutert, betrifft dies allein die Tatbestandsseite. Durch die neue Beweislastverteilung und durch die Möglichkeit auf der Rechtsfolgenseite die Schwere des Verschuldens angemessen zu berücksichtigen, ist zu erwarten, dass die Gerichte auf der Tatbestandsseite viel eher zur Annahme von grober Fahrlässigkeit kommen werden. Zur Identifizierung der groben Fahrlässigkeit dienen der Wert des Reisegepäcks und das Ausmaß der konkreten Gefährdung im Einzelfall als Maßstab. Je größer der Wert und/oder die Gefährdung, umso höher sind die Anforderungen an den Versicherungsnehmer. Dabei müssen immer die jeweiligen Möglichkeiten des Reisenden zu alternativem Verhalten, z.B. ein Ehepartner bringt die Gepäckstücke in die Wohnung, der andere Ehepartner verweilt am offenen Pkw, und die Kenntnisse des Versicherungsnehmers über die besondere Gefahrenlage, z.B. durch gleichartige Vorschäden, berücksichtigt werden. Als Korrektiv vor zu überzogenen Sicherungsanforderungen dient immer die Überlegung, wie sich ein durchschnittlicher nicht versicherter Reisender verhalten hätte.
Der Umfang der Kürzung wird entsprechend der Schwere des Verschuldens, d.h. ob das Verhalten einfach grob fahrlässig bis grob grob fahrlässig zu bewerten ist, zwischen 0–100 % liegen. Grundsätzlich handelt es sich bei dieser Betrachtung auf der Rechtsfolgenseite um eine Einzelfallbewertung. Ob es unter Berücksichtigung der neuen Gerichtsstandregelung (§ 215 VVG) und trotz der fehlenden versicherungsrechtlichen Schwerpunktabteilungen in den einzelnen Amts- und Landgerichten zu einer vergleichbaren Rechtsprechung bezüglich grob fahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalles bei Standardfällen kommt, bleibt weiter abzuwarten. Es erscheint aber eher fraglich, wenn man sich die bisherige Zersplitterung diesbezüglicher Rechtsprechung anschaut. Die Beweislast für das Nichtvorliegen von grober Fahrlässigkeit trägt der Versicherungsnehmer. Daher wird angenommen, dass der Versicherer, wenn auf Tatbestandsebene grobe Fahrlässigkeit vorliegt, grundsätzlich die Leistung um 50 % kürzen kann. Sofern er eine höhere Kürzung vornimmt, trägt er die Beweislast. Der Versicherungsnehmer trägt die Beweislast, sofern er die volle Leistung bzw. eine Kürzung unter 50 % begehrt (siehe hierzu § 1 Rdn 195 ff.).
Hinweis
Der Versicherer trägt die Beweislast für das Fehlverhalten und dessen Ursächlichkeit für den Schadeneintritt.
Rz. 105
Tragen eines Brillantringes und eines Saphirarmbandes nachts in einer italienischen Großstadt wird als grob fahrlässig angesehen. Dies ist zweifelhaft, weil nach Punkt 1.4 a AVB Reisegepäck 1992/2021 davon ausgegangen werden muss, dass der Schmuck bestimmungsgemäß getragen wurde, wenngleich auch der Ersatz nach Punkt 4.1 AVB Reisegepäck 1992/2021 begrenzt ist. Auch das Tragen wertvollen Schmuckes bei einem nächtlichen Spaziergang an einem Flussufer oder in einer unbeleuchteten Grünanlage wird als grob fahrlässig qualifiziert. Eine Leistungskürzung von über 50 % wird nur beim Vorliegen erschwerender Merkmale, wie z.B. bekannter sozialer Brennpunkt, hinsichtlich der Örtlichkeit wird vor (Taschen-)Dieben gewarnt usw. angenommen. Das LG Köln bewertet das Tragen einer goldenen Rolex in Neapel nicht als grob fahrlässig.
Rz. 106
Auf Flughäfen, Bahnhöfen, belebten Plätzen wird überwiegend ständiger Körper- oder Blickkontakt zum Reisegepäck gefordert. Grob fahrlässig soll schon sein, wenn der Reisende auf einem Bahnhof seine Tasche zwischen den Beinen abstellt, um die Zuganzeige zu studieren. Sitzt die Ehefrau während einer kurzen Abwesenheit des Ehemannes in einer Wartehalle auf zwei Gepäckstücken und hat das dritte neben sich abgestellt und bemerkt den Diebstahl des dritten Gepäckstückes nicht, weil sie einen Reiseführer liest, soll grobe Fahrlässigkeit gegeben sein. Wenn das dritte Gepäckstück dem Ehemann gehörte, stellt sich noch die Frage, ob die Ehefrau Repräsentantin war.
Wird ein Koffer 1 bis 2 Minuten unbeobachtet am Ausgang des Flughafens abgestellt, liegt grobe Fahrlässigkeit vor. Wird Reisegepäck bei der Rückkehr von einem Taxifahrer auf einem Platz vor der Haustür abgestellt, zunächst aber nur ein geringwertiger Teil des Reisegepäcks ins Haus verbracht, während der wertvollere Koffer draußen unbeaufsichtigt verbleibt und gestohlen wird, liegt grobe Fahrlässigkeit vor, zumal eine Beaufsichtigung durch den mitreisenden Ehegatten möglich gewesen wäre. Auch hier kommt es bei dem Umfang der Leistungskürzung auf die Faktoren des Einzelfalles an. Maßgeblich für die Kürzung sind der Zeitraum, in dem das Gepäck nicht hinreichend beaufsichtigt wurde und das Alternativverhalten zur Sicherung, z.B. durch den Ehepartner usw. Besonders ist hier aber auch der Wert des Reisegepäcks zu berücksichtigen, vor allem dann, wenn es sich um offensichtlich wertvolle Gegenstände handelt. Das LG Hannover hatte grobe Fahrlässigkeit anerkannt, wen...