Rz. 66
Da § 168 SGB IX allein darauf abstellt, ob es sich um ein Arbeitsverhältnis eines schwerbehinderten Menschen handelt, kommt es nicht darauf an, ob dem Arbeitgeber bei Ausspruch der Kündigung die Schwerbehinderteneigenschaft bekannt war. Der Arbeitgeber läuft daher stets Gefahr, dass eine ausgesprochene Kündigung aufgrund der Regelungen des SGB IX unwirksam ist. Im bestehenden Arbeitsverhältnis hat der Arbeitgeber aber jedenfalls nach sechs Monaten ein berechtigtes, billigenswertes und schutzwürdiges Interesse an der Frage nach dem Vorliegen einer Schwerbehinderteneigenschaft bzw. einem diesbezüglich gestellten Antrag. Dies gilt insbesondere zur Vorbereitung von beabsichtigten Kündigungen.
Praxishinweis
Es ist dem Arbeitnehmer verwehrt, sich im Kündigungsschutzprozess auf seine Schwerbehinderteneigenschaft zu berufen, wenn er die Frage nach der Schwerbehinderung wahrheitswidrig beantwortet (venire contra factum proprium). Vor diesem Hintergrund könnte der Arbeitnehmer unmittelbar vor der Einleitung eines Kündigungsverfahrens nach dem Vorliegen einer Schwerbehinderung bzw. Gleichstellung befragt werden.
Rz. 67
Die Regelung des § 173 Abs. 3 SGB IX begründet keine Obliegenheit des schwerbehinderten Arbeitnehmers, die behördlich festgestellte Schwerbehinderung vor Zugang der Kündigung dem Arbeitgeber vorzulegen. So weit dürfte die Gesetzesintention nicht reichen. Weder aus dem Wortlaut des Gesetzes noch aus der Gesetzesbegründung ergibt sich, dass der Nachweis gegenüber dem Arbeitgeber vor Kündigungsausspruch zu erbringen ist und somit die bisherige Rechtslage grundsätzlich modifiziert werden sollte. Im Gegenteil ist der Gesetzesbegründung zu entnehmen, dass der Nachweis durch einen Feststellungsbescheid nach § 152 Abs. 1 SGB IX oder durch Feststellungen nach § 152 Abs. 2 SGB IX zu führen sei. Diese Feststellungen müssen jedoch nicht dem Arbeitgeber bekannt gegeben werden, um wirksam zu werden.
Rz. 68
Der Arbeitnehmer ist aber in jedem Fall verpflichtet, nach Zugang der Kündigung, den Arbeitgeber über seine Schwerbehinderteneigenschaft, eine Gleichstellung oder ein eingeleitetes Antragsverfahren in Kenntnis zu setzen. Den Arbeitnehmer trifft die Obliegenheit, den Arbeitgeber sowohl im Fall der ordentlichen als auch der außerordentlichen Kündigung innerhalb einer angemessenen Frist – die in der Regel drei Wochen beträgt – auf den besonderen Kündigungsschutz hinzuweisen. Während dieses Zeitraums müssen zumindest ausreichende Anhaltspunkte mitgeteilt werden, aus denen der Arbeitgeber ersehen kann, dass er zur Einleitung einer Kündigung die Zustimmung des Integrationsamtes einholen muss. Der Arbeitnehmer darf die Drei-Wochen-Frist für die Unterrichtung grundsätzlich voll ausschöpfen, ohne sich rechtsmissbräuchlich zu verhalten. Erfolgt die Unterrichtung jedoch nicht rechtzeitig, ist der besondere Kündigungsschutz wegen Zeitablaufs grundsätzlich verwirkt. Eine Einschränkung der Möglichkeit, sich auf den Kündigungsschutz als schwerbehinderter Mensch zu berufen, ist unter dem Gesichtspunkt der Verwirkung aber nur gerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber tatsächlich schutzbedürftig ist. Die Möglichkeit ist in der Regel auch nicht verwirkt, wenn die Mitteilung der Schwerbehinderung erst zugleich mit der Zustellung der fristgerecht erhobenen Kündigungsschutzklage erfolgt. Bei einem Betriebsübergang ist dem Erwerber die Kenntnis des Veräußerers von der Schwerbehinderteneigenschaft zuzurechnen.
Rz. 69
Praxishinweis
Der Arbeitnehmeranwalt wird aufgrund des dadurch entstehenden Zeitgewinns regelmäßig dazu raten, die Drei-Wochen-Frist auszunutzen. Zur Vermeidung von haftungsrechtlichen Ansprüchen ist jedoch unbedingt darauf zu achten, dass die Mitteilung dem Arbeitgeber rechtzeitig zugeht. Eine Mitteilung in der Klageschrift genügt, auch wenn diese dem Arbeitgeber erst nach Ablauf der Drei-Wochen-Frist zugestellt wird. Sie ist in diesem Fall aber dann nicht fristgerecht erfolgt, wenn die Zustellung der Klageschrift durch das Gericht außerhalb der für eine unmittelbare Übermittlung an den Arbeitgeber zuzugestehenden Zeitspanne erfolgt. Auf den Rechtsgedanken des § 167 ZPO kann sich dann nicht berufen werden. Eine gesonderte Mitteilung an den Arbeitgeber zur Fristwahrung wird daher empfohlen.