Rz. 54
Für den Beginn der regelmäßigen Verjährungsfrist steht die grob fahrlässige Unkenntnis der anspruchsbegründenden Umstände und der Person des Schuldners der entsprechenden Kenntnis gleich (§ 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB). Grob fahrlässig ist diejenige Unkenntnis, die auf einer besonders schweren Vernachlässigung der im Rechtsverkehr erforderlichen Sorgfalt beruht (vgl. § 276 Abs. 2 BGB). Diese liegt vor, wenn die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich hohem Maße verletzt wurde, wenn ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt oder beiseitegeschoben wurden und dasjenige unbeachtet geblieben ist, was sich im gegebenen Fall jedem aufgedrängt hätte; grobe Fahrlässigkeit ist also eine subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung, die das gewöhnliche Maß der Fahrlässigkeit erheblich übersteigt.
Rz. 55
Eine grob fahrlässige Unkenntnis liegt i.d.R. in denjenigen Fällen vor, in denen die Rechtsprechung i.R.d. § 852 Abs. 1 BGB a.F. eine Unkenntnis der positiven Kenntnis des Schadens und des Schädigers gleichgestellt hat.
Danach steht eine Unkenntnis dann einer Kenntnis gleich, wenn es dem Geschädigten oder seinem gesetzlichen Vertreter möglich war, sich die erforderliche Kenntnis in zumutbarer Weise ohne nennenswerte Mühe und ohne besondere Kosten zu beschaffen, dieser jedoch eine gleichsam auf der Hand liegende Erkenntnismöglichkeit versäumt hat und deswegen letztlich das Berufen auf Unkenntnis als Förmelei erscheint, weil jeder andere in der Lage des Geschädigten unter denselben Umständen die Kenntnis gehabt hätte.
Das kann z.B. der Fall sein, wenn
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es sich um eine einfache Anfrage oder ein Telefongespräch handelt, um das Wissen um eine bestimmte Einzelheit – etwa die Anschrift des Schädigers – zu vervollständigen; |
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bei einfachen Sachverhalten ein Zeuge zum Schadenshergang vernommen wird, i.d.R. aber nicht bei schwer durchschaubaren wirtschaftlichen Abläufen und Zusammenhängen (Warenterminoption). |
Rz. 56
Ein missbräuchliches Sichverschließen ggü. einer naheliegenden Erkenntnismöglichkeit liegt i.d.R. dagegen nicht vor, wenn
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eine Wissenslücke nur durch lange und zeitraubende Telefonate geschlossen werden kann; |
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die Beauftragung eines Rechtsanwalts zur weiteren Aufklärung oder Bearbeitung des Falles notwendig ist; |
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der Geschädigte ein Strafverfahren gegen den Schädiger nicht verfolgt; |
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der Geschädigte nur die Geschäftsanschrift des Schädigers im Ausland kennt und Nachforschungen über den Wohnsitz notwendig wären; |
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eine Wissenslücke nur durch Einsicht in Ermittlungsakten und deren wertende Überprüfung zu schließen ist; |
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umfangreiche Erkundigungen, etwa durch Einholung eines Sachverständigengutachtens, notwendig sind. |
Rz. 57
Eine Pflicht des Geschädigten, im Interesse des Schädigers an einem möglichst frühen Verjährungsbeginn eine Aufklärungsinitiative zu ergreifen, besteht grds. nicht. Die fahrlässige Unkenntnis vom Beratungsfehler eines Anlageberaters oder -vermittlers ergibt sich auch nicht schon aus dem Umstand, dass das dem Kunden übergebene Emissionsprospekt nicht gelesen und so anhand dessen auch nicht die Ratschläge auf ihre Richtigkeit hin überprüft wurden. Auch wenn der Anlageinteressent die Beratungsdokumentation ungelesen unterschreibt, muss das nicht unbedingt grob fahrlässige Unkenntnis bedeuten. Der III. Zivilsenat des BGH verlangt in diesem Zusammenhang eine umfassende Würdigung der konkreten Umstände des Einzelfalls, etwa die inhaltliche Erfassbarkeit und grafische Auffälligkeit der Hinweise, des Ablaufs und Inhalts des Beratungsgesprächs und des Zeitpunkts der Unterzeichnung der Dokumentation, der im Zusammenhang damit getätigten Aussagen, des Bildungs- und Erfahrungsstands des Anlegers oder des Bestehens eines besonderen Vertrauensverhältnisses zum Berater. Die genannten Kriterien spielen aber eher eine Rolle für die Fragestellung, ob der Anleger von der Fehlerhaftigkeit und den Risiken der Anlage wusste oder ob er es vorzog, diese Kenntnisse einfach zu ignorieren, und ohne eigene Prüfung auf die Sachkunde des Beraters vertraute. Auch die genaue Lektüre des Beratungsprotokolls hätte nicht unbedingt zu der Erkenntnis führen müssen, dass ihm aufgrund der Fehlerhaftigkeit der Anlage und der damit im Zusammenhang stehenden oder anderweitigen Beratungsfehler ein Schadensersatzanspruch zusteht. Das aber wäre der korrekte Bezugspunkt für die Prüfung, ob und wann die Verjährung etwaiger Schadensersatzansprüche wegen fehlerhafter Beratung angelaufen ist. Dafür müsste sich der Anleger grob fahrlässig im Unklaren darüber befinden, dass die Beratung nicht dem Standard entsprochen hat, der allgemein verlangt wird. Dass dafür die "blinde" Unterzeichnung des Beratungsprotokolls oder des Zeichnungsscheins überhaupt eine entscheidende Rolle spielen soll, leuchtet nur dann ein, wenn sich durch die Lektüre ergeben hätte, dass die tatsächliche Beratung von der protokollierten abwich bzw. im Widerspruch zu den Angaben zur Anlag...