Rz. 544
Als Anfechtungsgründe im Sinne eines Motivirrtums (Eigenschaftsirrtum) nach § 119 Abs. 2 BGB kommen die Überschuldung des Nachlasses, mangelnde Kenntnis einzelner wichtiger Nachlassverbindlichkeiten, aber auch die fehlerhafte Einschätzung des Wertes einzelner Nachlassgegenstände in Betracht. Dabei ist als "Sache" im Sinne dieser Vorschrift bei der Anfechtung gem. §§ 1954, 1956 BGB die Erbschaft anzusehen, d.h. der dem Erben angefallene Nachlass oder der betreffende Nachlassteil bei einem Miterben. Das bedeutet, dass die Überschuldung der Erbschaft eine verkehrswesentliche Eigenschaft gem. § 119 Abs. 2 BGB darstellen kann, die zur Anfechtung der Annahme der Erbschaft berechtigen kann.
Rz. 545
Allerdings muss die Überschuldung auch im Zeitpunkt der Annahme der Erbschaft vorliegen. Ein Irrtum über das Bestehen von Verbindlichkeiten, bspw. von Einkommensteuerschulden für zurückliegende Veranlagungszeiträume, kann grundsätzlich die Anfechtung der Annahme begründen. Allerdings ist eine einzelne Verbindlichkeit lediglich ein Rechnungsfaktor für die Bewertung des ganzen Nachlasses und damit der Überschuldung.
Rz. 546
Zu den Eigenschaften einer Sache rechnet zwar nicht der Wert der Sache selbst, aber doch alle wertbildenden Merkmale, die die Sache unmittelbar kennzeichnen. Geht es um die Eigenschaften einer Sachgesamtheit wie eines Nachlasses, so stellt deren Zusammensetzung ein solches wertbildendes Merkmal dar. Deshalb gehört es zu den wertbildenden Faktoren der Erbschaft, mit welchen Verbindlichkeiten der Nachlass belastet ist. Ein Irrtum hierüber kann jedoch die Anfechtung nur begründen, wenn sich das Bestehen einer solchen Verbindlichkeit als verkehrswesentliches Merkmal darstellt und der Irrtum hierüber für die Erklärung der Annahme ursächlich war. Insoweit ist für die maßgebliche Beurteilung auf die Erbschaft als Ganze abzustellen. Deshalb können nur wertbildende Faktoren von besonderem Gewicht als im Verkehr wesentlich angesehen werden. Die Verbindlichkeit muss daher eine im Verhältnis zur gesamten Erbschaft erhebliche und für den Wert des Nachlasses wesentliche Bedeutung haben.
Beruht die Entscheidung des Erben, die Erbschaft auszuschlagen, auf bewusst ungesicherter, also spekulativer Grundlage, berechtigt dies mangels eines rechtlich relevanten Irrtums (bloßer Motivirrtum) den Ausschlagenden nicht zur Anfechtung seiner Erklärung. Hatte der ausschlagende Erbe keine konkreten Kenntnisse von der Vermögenslage des Erblassers wegen Fehlens jeglichen Kontakts seit Jahrzehnten, hatte er sich nicht um Aufklärung der Vermögensverhältnisse nach dem Tod des Erblassers bemüht und befürchtete er die Überschuldung aufgrund einer Bewertung von Umständen aus zurückliegender Zeit, so berechtigt eine später sich herausstellende Werthaltigkeit des Erbes (erhebliches Geld- und Wertpapiervermögen) nicht die Anfechtung der Ausschlagungserklärung.
Rz. 547
Darüber hinaus muss anzunehmen sein, dass der Erbe bei Kenntnis der Verbindlichkeit und verständiger Würdigung des Falles die Annahme nicht erklärt hätte, § 119 Abs. 1 BGB. Ein solches verständliches Interesse wird aber in aller Regel nicht gegeben sein, wenn auch unter Berücksichtigung der zunächst unbekannten Verbindlichkeit ein deutlicher Überschuss der Aktiva des Nachlasses über die Passiva verbleibt. Denn es ist davon auszugehen, dass man im Allgemeinen bei verständiger Würdigung auch kleinere Erbschaften anzunehmen pflegt.