Rz. 96
Die Nichteinhaltung der gesetzlichen Form des § 623 BGB hat gem. § 125 S. 1 BGB die Nichtigkeit der Kündigung zur Folge. Eine Heilung ist nicht möglich. Die Kündigung muss unter Beachtung der anzuwendenden Kündigungsfristen sowie sonstiger rechtlicher Erfordernisse (z.B. Betriebsratsanhörung nach § 102 BetrVG) wiederholt werden. Deshalb kann eine wiederholte außerordentliche Kündigung an der zweiwöchigen Ausschlussfrist des § 626 BGB scheitern. Zudem sind bei erneuter Kündigungserklärung die Kündigungsfristen neu zu berechnen.
Rz. 97
Will der Arbeitnehmer die Formunwirksamkeit der Kündigung geltend machen, ist er nicht an die Klagefrist des § 4 S. 1 KSchG gebunden, da diese Vorschrift den Zugang der "schriftlichen" Kündigung zur Voraussetzung für die Fristauslösung macht. Das gilt auch bei der außerordentlichen Kündigung, § 13 Abs. 1 S. 1 KSchG. Eine Begrenzung des Klagerechts ergibt sich aber aus dem Gesichtspunkt der Verwirkung, § 242 BGB. Erforderlich ist dabei die Beachtung des Einzelfalles, wobei das sog. Zeitmoment und das Umstandsmoment zu berücksichtigen sind.
Rz. 98
Beispiel
Der Arbeitgeber hat dem Arbeitnehmer in Unkenntnis des § 623 BGB per E-Mail fristlos wegen Diebstahls gekündigt. Der Arbeitnehmer erscheint deshalb drei Monate nicht zur Arbeit und erhebt auch keine Kündigungsschutzklage. Nachdem er bei der Agentur für Arbeit erfahren hat, dass die Kündigung gegen § 623 BGB verstieß, beschließt er, Kündigungsschutzklage zu erheben. Hier spricht zwar die Unkenntnis beider Beteiligter von § 623 BGB und §§ 4, 13 KSchG grundsätzlich gegen die Annahme der Verwirkung. Andererseits ist aus dem Verhalten beider – insbesondere auch des Arbeitnehmers – zu entnehmen, dass sie von einer ordnungsgemäßen Kündigung ausgingen. Das ergibt sich aus der (dem schweren Vorwurf entsprechenden) Eindeutigkeit des arbeitgeberseitigen Kündigungswillens, der sofortigen Einstellung der Arbeitstätigkeit und der mit drei Monaten relativ langen Zeit, die sich der Arbeitnehmer nicht "gemeldet" hat.
Rz. 99
Anders sind insbesondere Fälle zu beurteilen, in denen der Arbeitnehmer die fristlose Kündigung kurz vor oder während einer "ordnungsgemäßen" Freistellungsphase erhält, etwa während oder kurz vor einem Urlaub, einer Krankheit o.ä. Zudem wird man die Verwirkung auch nach Verstreichenlassen mehrerer Monate verneinen müssen, wenn das Arbeitsverhältnis bei ordentlicher Kündigung zunächst fortgesetzt wurde.
Rz. 100
Beispiel
Der Arbeitgeber hat dem Arbeitnehmer in Unkenntnis des § 623 BGB per E-Mail nach § 622 Abs. 2 Nr. 4 BGB ordentlich mit einer Frist von vier Monaten zum Monatsende gekündigt, ohne ihn für die restliche Arbeitszeit freizustellen. Am Ende der Frist erinnert er den Arbeitnehmer an die Kündigung und erklärt, er möge nicht mehr zur Arbeit erscheinen. Der Arbeitnehmer zögert nunmehr weitere sechs Wochen, bis er einen Anwalt aufsucht und dieser Kündigungsschutzklage erhebt. Obwohl hier die (bei formgerechter Kündigung geltende) Dreiwochenfrist bereits um ca. vier Monate überschritten ist, sprechen die Umstände klar gegen eine Verwirkung.