Rz. 617
Beliebte Streitpunkte in der Schadensregulierung sind regelmäßig die orthopädischen, akustischen oder optischen Hilfsmittel, die bei dem Unfall zerstört oder beschädigt wurden. Neben Handstock oder Gehhilfen anderer Art, Hörgeräten, Zahnprothesen (dazu OLG Frankfurt VersR 1979, 38) usw. liegt das Schwergewicht bei den Brillen.
Rz. 618
Vorab sei darauf hingewiesen, dass bei gesetzlich krankenversicherten Geschädigten wegen des Forderungsüberganges nach § 116 SGB X selbstverständlich zunächst eine Abrechnung über die Krankenkasse zu erfolgen hat und dann nur noch die restliche Differenz als eigener Schadensersatzanspruch des Geschädigten geltend gemacht werden kann.
Rz. 619
Aber diese Differenz – wie auch der vollständige Anspruch auf Ersatz der unfallbedingt beschädigten oder zerstörten Brille bei Privatversicherten – ist in der außergerichtlichen wie gerichtlichen Korrespondenz oft heftig umstritten. Nahezu ausnahmslos wird allenfalls dann gezahlt, wenn der Anschaffungsbeleg der streitgegenständlichen Brille vorgelegt wird. Der Neuanschaffungsbeleg reicht meist nicht aus, um den Versicherer zur Zahlung zu bewegen. Im Übrigen braucht entgegen weit verbreiteter Meinung bei den Versicherern der Neuanschaffungsbeleg wegen § 249 Abs. 2 S. 1 BGB und der Rechtsprechung des BGH zum normativen ("fiktiven") Schaden überhaupt nicht vorgelegt zu werden.
Rz. 620
Darüber hinaus werden meist horrende Abzüge "neu für alt" vorgenommen. Dies wird mit der Behauptung begründet, Brillen seien im Wesentlichen Gegenstände der Mode und würden nach maximal ein bis zwei Jahren ausgetauscht werden.
Rz. 621
Daran ist nur so viel richtig: Wenn sich seit der Anschaffung die Sehstärke und damit die Beschaffenheit der Gläser so sehr verändert hat, dass eine – nun unfallbedingt angeschaffte – neue Brille eine wesentliche Verbesserung gegenüber dem früheren Zustand vor dem Unfall darstellt, sind derartige Abzüge – in Maßen – wohl gerechtfertigt (OLG Nürnberg v. 23.12.2015 – 12 U 1263/14). Das kann aber nur bei einer gewissen Erheblichkeit der Fall sein, worunter sicherlich mehr als nur 0,25 bis 0,5 Dioptrien verstanden werden müssen, die von einem Betroffenen nach der Lebenserfahrung kaum registriert, geschweige denn als störend empfunden werden.
Rz. 622
Das gilt aber nicht, wenn die Glasstärke nahezu gleichgeblieben ist und allenfalls Gründe der Mode ins Feld geführt werden könnten. Statistisch betrachtet wird nämlich eine Brille nach Angaben des Optikerverbandes durchschnittlich 4,5 Jahre getragen. Nur selten wird eine Brille allein aus modischen Gründen gekauft.
Rz. 623
Wenn sogar das gleiche Brillengestell mit den gleichen Gläsern wiederbeschafft wurde, gibt es überhaupt kein Argument mehr, Abzüge zuzulassen, da dann ausschließlich der Gesichtspunkt des "optischen Hilfsmittels" in den Mittelpunkt rückt und keinerlei Modegesichtspunkte mehr zu berücksichtigen sind. Dann findet auch keine Zeitwertabschätzung statt, da der alleinige Zweck eines solchen Hilfsmittels in seiner medizinisch bedingten Korrekturfunktion zu suchen ist, die keinem Zeitwert unterliegt.
Rz. 624
Eines der wenigen veröffentlichten Urteile, das sich mit dieser Problematik befasst hat, ist das des AG Montabaur zfs 1998, 132. Dort heißt es im Leitsatz: "Wählt der Geschädigte nach der unfallbedingten Zerstörung der Brille den Weg der Ersatzbeschaffung, kommt ein Abzug ‘neu für alt’ nicht in Betracht." Zur Begründung verweist das Gericht darauf, dass keine messbare Vermögensverbesserung eingetreten ist, weil eine Brille kaum einer Abnutzung unterliegt. Eine Brille erfüllt für ihren Träger über Jahre hinaus unverändert die gleiche Funktion. Es verbleibt auch kein Restwert, da es für gebrauchte Brillen keinen Markt gibt. Die Zwangsläufigkeit des notwendigen Ersatzes, für den schon allein aus hygienischen und humanitären Gründen ein Markt für Gebrauchtteile nicht vorhanden ist, liefe bei einem Abzug auf einen unzulänglichen Schadensausgleich hinaus (so Diehl, Anm. AG Montabaur zfs 1998, 132).
Rz. 625
Eine weitere zwischenzeitlich veröffentlichte Entscheidung stammt vom AG St. Wedel (zfs 2000, 340): "Es ist kein Abzug ‘neu für alt’ bei Beschaffung eines Ersatzes für eine unfallbeschädigte, noch nicht fünf Jahre alte Brille vorzunehmen." Eine Vermögensvermehrung ist schon deshalb nicht festzustellen, weil objektiv feststehen müsste, wie lange der Geschädigte die unfallbeschädigte Brille getragen hätte. Ein natürlicher Verschleiß ist bei Brillen nicht gegeben. Ob sie ein paar Jahre oder ein Leben lang getragen werden, hängt allein von den subjektiven Bräuchen des jeweiligen Trägers ab und ist nicht objektivierbar. Eine "durchschnittliche Tragedauer" gibt es nicht. Auf einen wie auch immer gearteten durchschnittlichen, statistisch zu ermittelnden Wiederbeschaffungsrhythmus für gleichartige Brillen kann es also nicht ankommen. Inzwischen lehnt die Rechtsprechung regelmäßig einen Abzug "neu für alt" bei einer Brille ab (AG Heidelberg SVR 2014, 268; AG München ZMR 2012, 880; 268; mit a...