Rz. 74

Das OLG Hamburg[139] hat in einer seiner Entscheidungen eine Art Prüfungsschema für die Nachlassgerichte aufgestellt, anhand dessen die Testierunfähigkeit, in zugrundeliegendem Fall aufgrund eines demenziellen Syndroms, zu prüfen sei. Dieses Schema lässt sich jedoch im Prinzip auf sämtliche Verfahren übertragen.

 

Prüfungsschema zur Testierfähigkeit

Durch die Parteien müssen die konkreten auffälligen Äußerungen und Verhaltensweisen des Erblassers, sei es durch Benennung von Zeugen oder durch schriftliche Äußerungen weiterer Personen, detailliert vorgetragen werden.
Anhand des Vorbringens kann das Gericht im Rahmen des Freibeweises durch Einvernahme oder Sichtung der Beweise diese auffälligen Äußerungen und Verhaltensweisen feststellen.
Diese Anknüpfungstatsachen muss das Gericht dem Sachverständigen zur Verfügung stellen.
Der Sachverständige sichtet zudem sämtliche vor und nach dem relevanten Zeitpunkt medizinisch dokumentierte Befunde.
Der Sachverständige hat die von ihm ermittelten medizinischen Befunde im Kontext mit den auffälligen Verhaltensweisen des Erblassers zu betrachten, und die Auswirkungen im kognitiven Bereich, auf die Persönlichkeit und das Wertegefühl des Erblassers festzustellen.
Die dadurch gewonnen Ergebnisse sind sodann zu dem Zeitpunkt der Testamentserrichtung zu betrachten unter Berücksichtigung der Fähigkeit des Erblassers, Sachverhalte zu erfassen, aufzunehmen und zu verstehen, die Informationen zu verarbeiten und den sich ihm ergebenen Sachverhalt zu bewerten.
Feststellung des Sachverständigen, inwieweit die Fähigkeit des Erblassers bestand, aufgrund des erfassten Sachverhaltes seinen eigenen Willen zu bestimmen, zu äußern und danach zu verfügen.
Feststellung des Sachverständigen, inwieweit die Fähigkeit des Erblassers bestand, sich ein Urteil über die Alternativen zu dem von ihm Verfügten zu bilden und frei und ohne Einfluss Dritter zu verfügen.
Feststellung des Sachverständigen, ob die Testierfähigkeit oder die Testierunfähigkeit bestand (Grad an Gewissheit, der vernünftige Zweifel ausschließt).
Prüfung des Gutachtens durch das Gericht auf sachlichen Gehalt, logische Schlüssigkeit und Kongruenz zu dem vom Gericht ermittelten Sachverhalt. Insbesondere Prüfung, ob die Ausführungen des Sachverständigen den Begriff der Testierunfähigkeit erfüllen, und ob eine diesbezügliche nachvollziehbare Begründung für die Bejahung oder Verneinung geliefert worden ist.[140]
[139] OLG Hamburg ErbR 2019, 36 = ZErb 2018, 280.
[140] Vgl. auch BayObLG FamRZ 2002, 1066, 1067.

1. Postume Begutachtung

 

Rz. 75

Ein Gutachten zur Testierfähigkeit des Erblassers wird in der Regel erst postum erstellt werden. Die gesetzlichen Erben bzw. Erbprätendenten haben zuvor kein schutzwürdiges Interesse an der Feststellung der Testierfähigkeit. Allein die bloße Möglichkeit, Erbe zu werden, ist kein Rechtsverhältnis gem. § 256 ZPO. Dies gilt selbst dann, wenn die Aussicht, Erbe zu werden, im Rahmen der allgemeinen Lebenserfahrung besteht.[141] Sind konkret begründete Zweifel an der Testierfähigkeit des Erblassers aufgrund objektivierbarer Tatsachen oder Hilfstatsachen gegeben, dann ist die Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens geboten.[142]

[141] Zöller/Greger, ZPO, 31. Auflage, § 256 Rn 11; OLG Frankfurt FamRZ 1997, 1021, 1022.
[142] MüKo/Hagena, § 2229 Rn 60; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 1.6.2012 – I-3 Wx 273/11.

2. Parteivortrag

a) Feststellungslast/Beweislast

 

Rz. 76

Die Feststellungslast im Erbscheinsverfahren oder die Beweislast im Zivilprozess liegt bei demjenigen, der sich auf die Testierunfähigkeit beruft.[143] Es müssen sämtliche Tatsachen vorgetragen und bewiesen werden, aus denen sich die Testierunfähigkeit ergibt.[144] Eine Ausnahme hiervon besteht für den Fall, in dem feststeht, dass der Erblasser zu irgendeinem Zeitpunkt testierunfähig war und sich der Zeitpunkt der Testamentserrichtung nicht genau ermitteln lässt. Dies geht zu Lasten desjenigen, der sich auf die Testierfähigkeit beruft, so dass dieser die Feststellungslast trägt.[145] Eine Ausnahme vom Grundsatz der Feststellungslast liegt jedoch etwa dann nicht vor, wenn die Zeitangabe unleserlich ist und behauptet wird, der Testierende habe Geschriebenes nicht mehr lesen können.[146]

 

Rz. 77

Verbleiben am Ende der Beweisaufnahme Zweifel, ob der Erblasser testierfähig war, gilt in diesen Fällen die Vermutung, dass Volljährige geschäftsfähig und Personen, die das 16. Lebensjahr vollendet haben, bzw. Volljährige testierfähig sind, so lange nicht das Gegenteil bewiesen ist. Die Partei hat sodann ihrer Feststellungslast nicht genügt. Die Partei, die die Testierunfähigkeit behauptet, sollte somit den Sachverhalt möglichst genau ermitteln und vorbereiten, um die ausreichend Erforschung des maßgeblichen Sachverhalts zu ermöglichen.[147]

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