Prof. Dr. Martin Henssler, Christiane Pickenhahn
Rz. 7
IKT ermöglichen in immer mehr Branchen und Tätigkeiten, insbesondere im Dienstleistungssektor, eine ortsunabhängige sofortige Aufnahme der Arbeit. Arbeitstätigkeiten außerhalb der üblichen Arbeitszeiten sowie private Tätigkeiten während der Arbeitszeit (Facebook, private E-Mails etc.) gehören heute für viele Beschäftigte zum Arbeitsalltag. Die Frage, was als Arbeitszeit anzusehen ist, gewinnt im digitalen Zeitalter durch die zunehmende Fragmentierung der Arbeit neue Bedeutung. § 2 Abs. 1 ArbZG hilft hier nur bedingt weiter, indem er regelt, dass als Arbeitszeit "die Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne die Ruhepausen" anzusehen ist.
Rz. 8
Als Arbeitszeit zählen nach der Rechtsprechung neben der "aktiven Arbeit" (Vollarbeit) auch
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die Arbeitsbereitschaft ("Zeit wacher Aufmerksamkeit im Zustand der Entspannung"), |
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der Bereitschaftsdienst (Arbeitnehmer hält sich an einer vom Arbeitgeber bestimmten Stelle – innerhalb oder außerhalb des Betriebs – auf und wird bei Bedarf zu einem Arbeitseinsatz gerufen) und |
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Zeiten der tatsächlichen Inanspruchnahme bei Rufbereitschaft (jederzeitige Bereitschaft, die Arbeit in Kürze aufzunehmen ohne Bindung an einen Aufenthaltsort, eingehend zu den Facetten der Arbeitszeit). |
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Zeiten, in denen der Arbeitnehmer nicht in Anspruch genommen wird (passive/inaktive Zeiten der Rufbereitschaft), zählen hingegen zur Ruhezeit (EuGH v. 3.10.2000 – C-303/98, NZA 2000, 1227 Rs. "Simap", Rn 50; EuGH v. 9.9.2003 – C-151/02, NZA 2003, 1019 Rs. "Jaeger", Rn 51, im Einzelnen Wank, RdA 2014, 285). |
Rz. 9
Anders als bei der klassischen Rufbereitschaft muss der Arbeitnehmer durch den Einsatz von IKT für die Aufnahme seiner Tätigkeit nicht mehr zwingend zuerst den Betrieb des Arbeitgebers aufsuchen. Bisherigen Befragungen zur Anzahl der Arbeitnehmer, von denen eine ständige Erreichbarkeit auch außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeiten erwartet wird, fallen sehr unterschiedlich aus (ca. 22 %, BAuA-Arbeitszeitreport, S. 75; während des Urlaubs sollen sogar ca. 48 % der Arbeitnehmer aufgrund der Erwartung von Vorgesetzten erreichbar sein, BITKOM Studie 2015). Unabhängig von konkreten Zahlen zeigt sich jedenfalls ein deutlicher Zuwachs der ständigen Erreichbarkeit.
Rz. 10
Rechtsprechung, die eine rechtssichere Einordnung der ständigen Erreichbarkeit über Smartphones, Laptop, Tablets etc. erlaubt, existiert bisher nicht. Überwiegend wird die ständige Erreichbarkeit aber als Variante der Rufbereitschaft angesehen und damit nur dann als Arbeitszeit eingeordnet, wenn es zur tatsächlichen Inanspruchnahme kommt (Franzen/Gallner/Oetker/Galler, EuArbR RL 2003/88/EG, Art. 2 Rn 11c; Krause, Gutachten zum 71. DJT 2016, B 38; Latzel/Picker/Schuchart, Neue Arbeitswelt, S. 204; a.A. Buschmann/Ulber, § 2 ArbZG Rn 26, die grds. von Bereitschaftsdienst ausgehen; differenzierend Däubler, Internet und Arbeitsrecht, § 2 Rn 169g). Eine Verdichtung zum Bereitschaftsdienst mit der Folge der vollständigen Anrechnung auch der "inaktiven Zeiten" als Arbeitszeit ist nur im Einzelfall anzunehmen, wenn dem Arbeitnehmer ausdrücklich eine generelle Pflicht zur sofortigen Erledigung nach Kontaktaufnahme auferlegt wird, die den Arbeitnehmer faktisch ans "Home Office" als Aufenthaltsort bindet (so denkbar bei in regelmäßigen Abständen erfolgender Online-Überwachung eines Produktionsablaufs oder kontinuierlicher arbeitgeberseitiger Inanspruchnahme Krause, NZA 2016, 1004, 1005, ders., DJT 2016, B 38; Kramer, IT-Arbeitsrecht, B. Rn 884).
Bezweifelt werden mag, ob das klassische Unterscheidungskriterium zwischen Rufbereitschaft und Bereitschaftsdienst der "freien Wahl des Aufenthaltsorts" der Einordnung als Arbeitszeit im Fall der Wissensarbeit, die jeder Zeit und an jedem Ort erbracht werden kann, auch dann geeignet ist, wenn die Arbeit via immer verfügbarem Smartphone erledigt werden kann. Unklarheiten ergeben sich hierbei insbesondere bei der Übertragbarkeit der Rechtsprechung zur Bedeutung von Zeitvorgaben zwischen Abruf und Arbeitsaufnahme für die Beschränkung des Aufenthaltsortes, die bisher auf der Grundannahme der Notwendigkeit eines Aufsuchens der Betriebsstätte entwickelt wurde (BAG v. 31.1.2002 – 6 AZR 214/00, NZA 2002, 871, Zeitvorgabe von 20 Min. führt zu Bereitschaftsdienst, BAG v. 22.1.2004 – 6 AZR 544/02, NZA 2005, 600 Zeitvorgabe von 45 Min. steht Rufbereitschaft nicht entgegen; EuGH v. 21.2.2018 – C-518/15, NZA 2018, 293, Bereitschaftsdienst von Zuhause bei Zeitvorgabe der Arbeitsaufnahme in acht Minuten; EuGH v. 11.11.2021 – C-214/20, NZA 2021, 1699 Rufbereitschaft trotz Zeitvorgabe der Arbeitsaufnahme innerhalb von zehn Minuten).
Auch in jüngerer Zeit ergingen lediglich Urteile zum Arbeitszeitbegriff, bei denen die Arbeitnehmer ortsabhängige Arbeiten zu erledigen hatten. Der EuGH stellte aber dabei klar, dass bei der Einordnung von inaktiven Zeiten als Arbeitszeit nur Ruhezeiteinschränkungen zu berücksichtigen sind, die dem Arbeitnehmer durch nationale Rechtsvorschriften, durch einen Tarifvertrag oder durch sein...