Prof. Dr. Martin Henssler, Christiane Pickenhahn
Rz. 14
Kollektivrechtliche Möglichkeiten der Verlängerung der täglichen Höchstarbeitszeit über die bereits durch § 3 S. 2 ArbZG mögliche Verlängerung auf zehn Stunden sehen § 7 Abs. 1 Nr. 1a) und Abs. 2a ArbZG für den Fall vor, dass in die Arbeitszeit regelmäßig und in erheblichem Umfang Arbeitsbereitschafts- oder Bereitschaftsdienstzeiten fallen. § 7 Abs. 2a ArbZG geht noch über Abs. 1 Nr. 1a) hinaus, indem er eine Verlängerung auch ohne Ausgleich ermöglicht, dafür aber eine schriftliche Einwilligung des Arbeitnehmers und die Sicherstellung des Gesundheitsschutzes verlangt.
Zweifelhaft erscheint die nur vereinzelt vertretene Auffassung, nach der § 7 Abs. 1 Nr. 1a) ArbZG zur Lösung des Problems der ständigen Erreichbarkeit herangezogen werden soll, weil die Vorschrift trotz fehlender Nennung der Rufbereitschaft deren kollektivrechtliche Vereinbarung und damit auch eine entsprechende Regelung der ständigen Erreichbarkeit zulasse (Wirtz, BB 2014, 1397, 1400; Conzelmann, S. 113 f; a.A. Baeck/Deutsch/Winzer, § 7 ArbZG Rn 48, 91).
Eine Verkürzung der täglichen 11-stündigen Mindestruhezeit auf kollektivrechtlicher Ebene erlauben § 7 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 2a ArbZG sowie für besondere Branchen/Bereiche Abs. 2 Nr. 2- 4 (insb. Landwirtschaft, Pflegeeinrichtungen, öffentliche Verwaltung). Nach § 7 Abs. 1 Nr. 3 ArbZG kann die Mindestruhezeit um bis zu zwei Stunden gekürzt werden, wenn die "Art der Arbeit" dies erfordert. Erforderlich ist die Kürzung, wenn die Arbeit sonst nicht oder nur unzureichend ausgeführt werden kann. Den Tarifvertragsparteien wird dabei überwiegend ein weiter Beurteilungsspielraum zugesprochen (Neumann/Biebl, § 7 ArbZG Rn 27; a.A. Schliemann, § 7 ArbZG Rn 56, der nur Arbeiten als erfasst sieht, die zwingend von der gleichen Person erledigt werden müssen und die sinnvoll und technisch bedingt nur durch Verkürzung der Ruhezeit erledigt werden können).
Des Weiteren sieht § 7 Abs. 2 Nr. 1 ArbZG eine "unbeschränkte" Kürzung der Ruhezeit bei Rufbereitschaft vor (die Grenze liegt bei der Verkürzung auf eine Mindestruhezeit von sechs Stunden, BAG v. 24.2.1982 – 4 AZR 223/80, NJW 1982, 2140).
Rz. 15
Innerhalb der Schranken des § 7 Abs. 9 ArbZG, der eine Einhaltung der elfstündigen Mindestruhezeit bei Verlängerung der Höchstarbeitszeit auf über zwölf Stunden verlangt, können die Verlängerung der Höchstarbeitszeit und die Verkürzung der Mindestruhezeit kombiniert werden. Das aktuelle ArbZG lässt damit bereits heute Abweichungen von Höchstarbeitszeit und Mindestruhezeiten zu, deren Verwertbarkeit für die Rechtfertigung einer pauschalen erweiterten Erreichbarkeit allerdings zweifelhaft ist.
Rz. 16
Erhebliche Bedenken bestehen hinsichtlich der Vereinbarkeit der Regelungen des § 7 ArbZG mit Unionsrecht. Die Zweifel an der Europarechtskonformität betreffen fast alle genannten Tatbestände. Friktionen ergeben sich zwischen der restriktiven Auslegung der Art. 17 bis 22 RL 2003/88/EG durch den EuGH und § 7 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 2a ArbZG. Während die genannten Regelungen nur an verschiedene Formen der Arbeitszeit (Arbeitsbereitschaft, Bereitschaftsdienst oder Rufbereitschaft) anknüpfen, und ohne weitere Beschränkung auf bestimmte Tätigkeitsfelder oder Berufe eine Abweichung erlauben, gestattet die Rechtsprechung des EuGH nur in eng begrenzten Fällen Abweichungen (s. Preis/Sagan/Ulber, EuArbR, § 6 Rn 272). So sind Abweichungen auf das "zur Wahrung der Interessen, deren Schutz sie ermöglichen, unbedingt Erforderliche" zu beschränken (EuGH v. 9.9.2003 – C–151/02, NZA 2003, 1019). Auch die Abweichungsbefugnis des § 7 Abs. 1 Nr. 3 ArbZG ("Art der Arbeit") unterliegt dem unionsrechtlichen Erforderlichkeitsmaßstab. Außerdem lässt die RL 2003/88/EG Verkürzungen der Mindestruhezeiten durch Kollektivvereinbarung nur bei gleichwertigen Ausgleichsruhezeiten zu, die sich unmittelbar an die Arbeitszeit anschließen müssen, deren Ausgleich sie dienen (EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02, NZA 2003, 1019 Rs. "Jaeger", Rn 94; dazu Preis/Sagan/Ulber, EuArbR, § 6 Rn 240 ff). Soweit keine außergewöhnlichen Umstände bestehen, die einen solchen Ausgleich unmöglich machen, hat dieser vor Beginn der nächsten Arbeitsperiode zu erfolgen. Verlängerungen der täglichen Höchstarbeitszeit wären über die derzeit durch § 7 ArbZG eröffneten Möglichkeiten hinaus hingegen bei Einhaltung der täglichen Mindestruhezeit und der wöchentlichen Höchstarbeitszeit von 48 Stunden unionsrechtlich unbedenklich (Formulierungsvorschlag für eine Anpassung des § 7 ArbZG s. Pickenhahn, Unionsrechtliche Gestaltungsspielräume für die Arbeitszeit von Wissensarbeitern, 2021, S. 236 ff.)