Prof. Dr. Martin Henssler, Christiane Pickenhahn
Rz. 10
Die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung hatte in den letzten Jahren mehrfach Gelegenheit, sich mit verschiedenen Systemen der digitalen Überwachung auseinanderzusetzen (BAG v. 27.7.2017 – 2 AZR 681/16, NZA 2017, 1327, "Keylogger"; BAG v. 29.6.2017 – 2 AZR 597/16, NZA 2017, 1179 und BAG v. 20.10.2016 – 2 AZR 395/15, NZA 2017, 443 "verdeckte Videoüberwachung"; BAG v. 25.4.2017 – 1 ABR 46/15, NZA 2017, 1205 "Belastungsstatistik"; LAG Berlin-Brandenburg v. 4.6.2020 – 10 Sa 2130/19, NZA-RR 2020, 457 "biometrisches Zeiterfassungssystem"). Klassische Videoüberwachung, "Keylogger", die die Tastatureingaben des Arbeitnehmers aufzeichnen und Screenshots machen, E-Mail-Screenings, biometrische Zeiterfassungssysteme, Belastungsstatistiken durch umfangreiche digitale Erfassung von Arbeitsschritten oder -ergebnissen sowie "Social Graph", der Analyse der (inner-)betrieblichen Kommunikation über soziale Netzwerke, nehmen heute Einzug in die Unternehmenspraxis. Die technischen Möglichkeiten der digitalen Überwachung sind nahezu unbegrenzt.
Rz. 11
Das BAG wendet auf diese neuen Arten der digitalen Überwachung seine bereits zur klassischen Videoüberwachung aufgestellten Grundsätze an und konkretisiert diese: Während das Gesetz bereits nach öffentlich zugänglichen und nicht öffentlich zugänglichen Räumen differenziert, ist im Weiteren danach zu differenzieren, ob die Überwachung offen oder verdeckt erfolgt. Offene Überwachungen öffentlich zugänglicher Räume sind grundsätzlich nach § 4 BDSG (§ 6b BDSG a.F.) bereits dann erlaubt, wenn diese zur Wahrnehmung berechtigter Interessen des Arbeitgebers für konkret festgelegte Zwecke erfolgen. "Offen" bedeutet dabei, dass der konkrete Zweck vorab offengelegt werden muss (bspw. Videokameras in Verkaufsräumen zur Aufklärung von Verstößen Dritter/Wahrnehmung des Hausrechts). Alle anderen Formen der Überwachung (verdeckte Überwachung oder offene Überwachung nicht öffentlich zugänglicher Räume) bedürfen der Rechtfertigung nach § 26 BDSG, soweit nicht ausnahmsweise eine wirksame (grds. schriftliche!) Einwilligung der betroffenen Personen in Frage kommt (keine konkludente Einwilligung durch fehlenden Widerspruch BAG v. 27.7.2017 – 2 AZR 681/16, NZA 2017, 1327, Freiwilligkeit möglich bei Mitarbeiterumfragen sowie bei Potenzialanalysen für den beruflichen Aufstieg, näheres zur Einwilligung s. Däubler, Gläserne Belegschaften, 2017, Rn 135 ff.).
Rz. 12
Um die Erforderlichkeit einer Überwachungsmaßnahme bejahen zu können, bedarf es eines durch konkrete Tatsachen begründeten Anfangsverdachts einer Straftat oder einer anderen schweren Pflichtverletzung. Ermittlungen "ins Blaue hinein" bzw. reine Mutmaßungen, es könnten Straftaten begangen werden, können eine (verdeckte) Überwachung grds. nicht rechtfertigen (BAG v. 20.10.2016 – 2 AZR 395/15, NZA 2017, 443; v. 27.3.2003 – 2 AZR 51/02, NZA 2003, 1193). Im Übrigen müssen die folgenden Kriterien erfüllt sein:
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Eine versteckte Überwachung ist nur zulässig, wenn keine milderen Mittel denselben Erfolg versprechen (z.B. sichtbare Kameras, BAG v. 7.10.1987 – 5 AZR 116/86, NZA 1988, 92; Einschalten des Medizinischen Dienstes gem. § 275 I Nr. 3 SGB V bei Verdacht einer vorgetäuschten Arbeitsunfähigkeit, BAG v. 19.2.2015 – 8 AZR 1007/13, NZA 2015, 994). |
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Die Überwachung muss räumlich, zeitlich sowie auch quantitativ (Anzahl der überwachten Personen) auf das Notwendige beschränkt erfolgen: Damit ist eine Überwachung eines einzelnen Verdächtigten eher zulässig als die Überwachung der gesamten Belegschaft (hier ist auch die Torkontrolle als milderes Mittel zu bedenken, BAG v. 9.7.2013 – 1 ABR 2/13 (A), NZA 2013, 1433). Vorübergehend kann aber auch die Überwachung einer Gruppe bzw. Abteilung zulässig sein, soweit der Verdacht einer nicht nur geringfügigen Verfehlung besteht (BAG v. 21. 6. 2012 - 2 AZR 153/11, NZA 2012, 1025). |
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In seiner jüngeren Rspr. fordert das BAG zusätzlich die Transparenz der Überwachungsmaßnahme. So sind Mitarbeiter grundsätzlich über Zweck und Zeitraum einer Überwachung vorab aufzuklären. Dabei ist klarzustellen, welchen Umfang die Überwachung hat, insbesondere ob sie sich "nur" auf den Kommunikationsfluss beschränkt oder auch der Inhalt der Kommunikation erfasst wird. Schließlich ist darüber zu informieren, für wen die Überwachungsergebnisse zugänglich sind (s. auch die Entscheidung des EGMR v. 5.9.2017 – 61496/08, NZA 2017, 1443, Rs. "Barbulescu"). |
Rz. 13
Anlassunabhängige Profiling-Maßnahmen ("Social Graph", Spyware bzw. Big Data-Analysen jeglicher Art) des Arbeitgebers verstoßen gegen § 26 BDSG (zu einzelnen Maßnahmen s. Däubler, NZA 2017, 1481; Niklas/Thurn, BB 2017, 1589). Das Einholen von Informationen über bestehende Arbeitnehmer im Internet via Suchmaschinen hat das LAG Baden-Württemberg jedenfalls dann für zulässig angesehen, wenn Unstimmigkeiten im Lebenslauf oder den sonstigen Arbeitnehmerangaben Anhaltspunkte für unzutreffende Angaben bieten (LAG Baden-Württemberg v. 21.2.2019 – 3 Sa 65/17, BeckRS 2019, 5479). Hintergrundr...