Entscheidungsstichwort (Thema)
Verkehrsunfall mit Beteiligung eines Kindes: Quotenmäßige Haftung bzw. Haftungsfreistellung des Fahrzeughalters und Bewertung des Mitverschuldensanteils des Kindes bei grob verkehrswidrigem Verhalten
Orientierungssatz
1. Bei der Abwägung nach §§ 9 StVG, 254 BGB kann der Betriebsgefahr des an dem Unfall beteiligten Kraftfahrzeugs das verkehrswidrige Verhalten des geschädigten Kindes haftungsentlastend nicht in derselben Weise, wie das für ein Mitverschulden von erwachsenen Verkehrsteilnehmern zu geschehen hätte, gegenübergestellt werden. Soweit sich in dessen Unfallbeitrag altersgemäße Defizite der Integrierung in den Straßenverkehr und seine Gefahren auswirken, stellt dieser Beitrag auch dann nicht von der Haftung nach § 7 StVG frei, wenn er objektiv als grob verkehrswidrig erscheint und deshalb, wäre ein Erwachsener geschädigt worden, die Haftung für den Halter entfallen lassen würde (Anschluss BGH, 13. Februar 1990, VI ZR 128/89, NJW 1990, 1483).
2. Bei der Abwägung nach §§ 9 StVG, 254 BGB sind daher bei der Bewertung des Mitverschuldens subjektive Faktoren auf Seiten des Kindes zu berücksichtigen, die an altersgemäßen Maßstäben gemessen werden müssen. In diesem Rahmen ist neben einer quotenmäßigen Haftungsverteilung auch für eine Haftungsfreistellung des Halters Raum. Allerdings kommt eine völlige Haftungsfreistellung bei kleinen Kindern nur im Ausnahmefall in Betracht. Das ist nur dann denkbar, wenn auf der Seite des Kindes gemessen an dem altersspezifischen Verhalten von Kindern auch subjektiv ein besonders vorwerfbarer Sorgfaltsverstoß vorliegt. Andererseits wird das objektive Gewicht des Unfallbeitrags in der Abwägung mit der Betriebsgefahr immer mehr an Bedeutung gewinnen, je stärker Kinder vom Alter her in den Straßenverkehr integriert sein müssen. Je jünger das Kind ist, desto eher ist sein verkehrswidriges Verhalten dem Gefahrenkreis zuzurechnen, dessen Schadenslasten die Gefährdungshaftung dem Halter des Kraftfahrzeugs zuweist.
Normenkette
StVG § 7 Abs. 1, § 9; BGB § 254
Tenor
1.) Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 1.230,30 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 1.000,00 EUR seit dem 17. Februar 2011 und aus weiteren 75,00 EUR seit dem 1. März 2011 zu bezahlen.
2.) Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
3.) Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.
4.) Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagten können die Vollstreckung, auch zu einem Teilbetrag, durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
Beschluss:
Der Streitwert wird auf 2.210,05 EUR festgesetzt.
Tatbestand
Die Klägerin verlangt Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall, an welchem sie als Fußgängerin beteiligt war.
Die am 9. September 1997 geborene Klägerin überquerte am 8. November 2010 gegen 16.45 Uhr die R.straße in H. als Fußgängerin im Bereich der Straßenbahnhaltestelle „H.straße”. Sie kam aus Richtung H.straße und überquerte die R.straße von der (aus Richtung Innenstadt in Richtung Zoo gesehen) rechten zur linken Straßenseite. Eine Ampel oder ein Fußgängerüberweg befindet sich dort nicht. Auf der (aus Richtung Innenstadt gesehen) rechten Straßenseite der R.straße, also auf der Seite, von der aus die Klägerin die Straße überquerte, stand am Straßenrand ein Geldtransporter, dessen Beifahrer gerade den Fahrkartenautomaten an der Haltestelle leerte. Die Klägerin überquerte die Straße (aus Richtung Innenstadt gesehen) hinter dem Geldtransporter, sodass dieser für die Klägerin die Sicht auf die Fahrbahn aus Richtung Innenstadt versperrte. Von dort kam der Beklagte zu 1. mit seinem bei der Beklagten zu 2. pflichtversicherten PKW Renault, amtliches Kennzeichen …-…. Der Beklagte zu 1. fuhr die Klägerin an, sodass diese stürzte und verletzt wurde.
Die Klägerin erlitt Prellungen an den Unterschenkeln, im Hüftbereich und am Bauch sowie eine Distorsion des linken Sprunggelenks und einen Bruch des Endgliedes des linken Daumens. Zudem wurden Gegenstände der Klägerin (Kleidung, Brille, Handy) beschädigt. Die Klägerin befand sich vom 8. bis zum 10. November 2010 in stationärer Krankenhausbehandlung.
Die Klägerin behauptet, sie habe vor dem Überqueren der Straße am Fahrbahnrand angehalten und sich durch Blick nach links vergewissert, dass die Straße frei ist. Sie ist der Ansicht, dass ihr auch kein Mitverschulden anzulasten sei, weil insoweit ein altersgemäßer Maßstab anzulegen sei und daher ihr Verschulden dem eines Erwachsenen nicht gleichgesetzt werden könne. Für ihre Verletzungen hält die Klägerin ein Schmerzensgeld von mindestens 2.000,00 EUR für angemessen. Die Klägerin beruft sich auf einen ihr entstandenen Sachschaden von 210,05 EUR (85,05 EUR Zeitwert für beschädigtes Handy, 55,00 EUR Kosten für eine neue Brille, 20,00 EUR Zeitwert für beschädigte Stiefel, und 50,00 EUR Zeitwert für beschädigte Uhr). Ei...