I. Rücknahme der Anklage oder des Antrags auf Erlass eines Strafbefehls
Rücknahme der Anklage beendet das Verfahren nicht
Häufig wird auch die Rücknahme der Anklage oder die Rücknahme des Antrags auf Erlass eines Strafbefehls durch die Staatsanwaltschaft in analoger Anwendung der Anm. Abs. 1 S. 1 Nr. 1 zu Nr. 4141 VV als ein Fall der Zusätzlichen Gebühr angesehen. Dies ist in dieser Aussage jedoch unzutreffend. Allein die Rücknahme der Anklage oder die Rücknahme des Antrags auf Erlass des Strafbefehls beendet das Verfahren nicht und kann daher für sich genommen nicht zu einer Zusätzlichen Gebühr führen.
Der Fall der Rücknahme der Anklage ist mit einer "nicht nur vorläufigen Einstellung" gerade nicht vergleichbar (Burhoff/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 5. Aufl., 2017, Nr. 4141 VV Rn 19).
Erst nachfolgende Einstellung löst die Zusätzliche Gebühr aus
Erst die nachfolgende Einstellung führt zur Zusätzlichen Gebühr.
Keine Zusätzliche Gebühr bei erneuter Anklageerhebung
Daher entsteht keine Zusätzliche Gebühr, wenn die Anklage erneut, ggfs. vor einem anderen Gericht, erhoben wird.
II. Rücknahme der Anklage und nachfolgende Einstellung
Anders verhält es sich jedoch, wenn mit der Rücknahme der Anklage die Einstellung des Verfahrens einhergeht. In diesem Fall gilt unmittelbar Anm. Abs. 1 S. 1 Nr. 1 zu Nr. 4141 VV.
Eine Einstellungsentscheidung nach § 170 Abs. 2 S. 1 StPO ist auch nach Rücknahme der Anklage ein Anwendungsfall der Nr. 4141 Anm. 1 S. 1 Nr. 1 VV.
AG Gießen, Beschl. v. 29.6.2016 – 507 Ds 604 Js 35439/13, AGS 2016, 394 = RVGreport 2016, 348 = RVGprof. 2017, 62
Ebenso zur vergleichbaren Rechtslage nach der BRAGO:
Nimmt die Staatsanwaltschaft die Anklage zurück und stellt sie das Verfahren ein, so erhält der Rechtsanwalt, dessen Tätigkeit für die Einstellung mitursächlich war, die Gebühr des BRAGO § 84 Abs. 2 BRAGO [jetzt Anm. Abs. 1 Nr. 1 zu Nr. 4141 VV].
LG Zweibrücken, Beschl. v. 10.12.2001 – Qs 100/01, AGS 2002, 90 = JurBüro 2002, 307
Erreicht der nach Anklageerhebung und Eröffnung des Hauptverfahrens zum Verteidiger bestellte Anwalt, dass die Staatsanwaltschaft die Anklage zurücknimmt und das Ermittlungsverfahren gem. § 170 Abs. 2 StPO einstellt, so steht dem Verteidiger für seine Tätigkeit eine Gebühr nach §§ 84 Abs. 2, 83 Abs. 1 BGB [jetzt Anm. Abs. 1 Nr. 1 zu Nr. 4141 VV] zu.
LG Aachen, Beschl. v. 31.3.1998 – 66 Qs 13/98 AGS 1999, 59 = zfs 1999, 33
§ 84 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BRAGO [jetzt Anm. Abs. 1 Nr. 1 zu Nr. 4141 VV] findet auch Anwendung, wenn die Einstellung des Verfahrens nach § 170 StPO durch die Staatsanwaltschaft nach Rücknahme der öffentlichen Klage erfolgt ist.
OLG Düsseldorf, Beschl. v. 26.10.1998 – 4 Ws 310/98, AGS 1999, 120 = StraFo 1999, 68 = Rpfleger 1999, 149 = JurBüro 1999, 131 = NStZ-RR 1999, 192 = AnwBl 1999, 616 = StV 2000, 92 = zfs 1999, 320
Einstellung zählt zum vorbereitenden Verfahren
Allerdings zählt die Einstellung dann zum vorbereitenden Verfahren, das sich nach Rücknahme der Anklage wieder fortsetzt.
Nimmt die Staatsanwaltschaft ihre Anklage zurück, versetzt sie damit das Verfahren in den Stand des Ermittlungsverfahrens zurück, mit der Folge, dass der Rechtsanwalt, der vom Beschuldigten erst nach Anklageerhebung beauftragt worden ist, die Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV verdient.
AG Gießen, Beschl. v. 29.6.2016 – 507 Ds 604 Js 35439/13, AGS 2016, 394 = RVGreport 2016, 348 = RVGprof. 2017, 62
1. Mit der Rücknahme des Antrags auf Erlass des Strafbefehls gem. § 411 Abs. 3 S. 1 StPO wird das Verfahren in den Stand des Ermittlungsverfahrens zurückversetzt, mit der Folge, dass ein Strafbefehl seine Wirkung verliert. Einem Verteidiger ist daher die Vorverfahrensgebühr zuzusprechen, wenn er im Rahmen des – sich an die Rücknahme der Klage anschließenden – Ermittlungsverfahrens tätig wurde und sich die Gebühr nicht bereits aus der vorausgegangenen Tätigkeit in dieser Sache im Ermittlungsverfahren verdient hatte (Anschluss AG Gießen, Beschl. v. 29.6.2016 – 507 Ds 604 Js 35439/13, AGS 2016, 394).
2. Der Umstand, dass zu einem früheren Zeitpunkt eine – später zurückgenommene – Anklage erhoben worden war, vermag die Entstehung einer Vorverfahrensgebühr nicht zu verhindern, weil die zurückgenommene Anklage bzw. der zurückgenommene Strafbefehlsantrag keine Rechtswirkungen mehr entfaltet.
LG Berlin, Beschl. v. 28.12.2016 – 536 Qs 22/16, AGS 2017, 80 = RVGreport 2017, 106 = NJW-Spezial 2017, 124 = RVGprof. 2017, 142
Vorbefassung ist unerheblich
Die Verfahrensgebühr der Nr. 4104 VV entsteht auch dann, wenn der Verteidiger zuvor bereits im Ermittlungsverfahren nicht tätig war. Lediglich die Abrechnung ist anders vorzunehmen.
Beispiel 1: Mit Vorbefassung
Die Staatsanwaltschaft nimmt die Anklage vor dem AG nach Eröffnung des Verfahrens aufgrund einer Einlassung des Verteidigers zurück und stellt das Verfahren nach § 170 Abs. 2 StPO ein. Der Verteidiger war bereits im Ermittlun...