I. Fragen
1. Fall 1
In dem gegen das Jobcenter geführten Rechtsstreit hat das SG Berlin im Jahr 2018 Rechtsanwalt A dem Kläger im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordnet. Der Rechtsanwalt hat nach Einreichen der Klageschrift mit dem Jobcenter korrespondiert. In dem hieraufhin erfolgten schriftlichen Vergleichsvorschlag des Jobcenters, den Rechtsanwalt A schriftsätzlich angenommen hat, hat sich das Jobcenter verpflichtet, dem Kläger den überwiegenden Teil der Klagesumme zu zahlen und 70 % der außergerichtlichen Kosten des Klägers zu übernehmen. Hieraufhin hat der Kläger den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt. Rechtsanwalt A hat am 5.7.2018 die Festsetzung folgender im aus der Landeskasse zu zahlenden Gebühren und Auslagen beantragt:
1. |
Verfahrensgebühr, Nr. 3102 VV (Mittelgebühr) |
300,00 EUR |
2. |
Einigungsgebühr, Nrn. 1000, 1006 VV |
300,00 EUR |
3. |
Terminsgebühr Nr. 1 der Anm. |
280,00 EUR |
|
zu Nr. 3106 VV (Mittelgebühr) |
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4. |
Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV |
20,00 EUR |
5. |
19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV |
171,00 EUR |
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Gesamt |
1.071,00 EUR |
Hierauf hat der Kläger vom beklagten Jobcenter erhalten:
70 % der Positionen 1, 2, 4 und 5 |
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(anteilig) mit |
516,46 EUR |
Rest |
554,54 EUR |
Der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle des SG Berlin hat die Vergütung gem. § 55 Abs. 1 RVG am 10.10.2018 wie folgt festgesetzt:
1. |
Verfahrensgebühr, Nr. 3102 VV (Mittelgebühr) |
300,00 EUR |
2. |
Einigungsgebühr, Nrn. 1000, 1006 VV |
300,00 EUR |
3. |
Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV |
20,00 EUR |
4. |
19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV |
117,80 EUR |
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Gesamt |
737,80 EUR |
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abzgl. Zahlung Jobcenter |
– 516,46 EUR |
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Festgesetzter Betrag |
221,34 EUR |
Die außerdem zur Festsetzung angemeldete Terminsgebühr hat der Urkundsbeamte nebst anteiliger Umsatzsteuer abgesetzt.
Am 13.12.2020 wird Rechtsanwalt A die Entscheidung des LSG Berlin-Brandenburg bekannt, wonach für den Anfall der Terminsgebühr nach Nr. 1 der Anm. zu Nr. 3106 VV der Abschluss eines außergerichtlichen Vergleichs genügt. Deshalb legt Rechtsanwalt A am 14.12.2020 gegen die Festsetzung des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle vom 10.10.2018 Erinnerung mit der Begründung ein, die Terminsgebühr sei nebst anteiliger Umsatzsteuer zu Unrecht abgesetzt worden.
Hat die Erinnerung des Rechtsanwalts A Aussicht auf Erfolg?
2. Fall 2
Der im Rechtsstreit obsiegende Kläger hat in seinem Kostenfestsetzungsantrag – soweit hier von Interesse – eine Terminsgebühr für Besprechungen nach Vorbem. 3 Abs. 3 S. 3 Nr. 2 i.V. m. Nr. 3104 VV geltend gemacht. Den Ansatz dieser Terminsgebühr hat er in seinem Kostenfestsetzungsantrag damit begründet, sein Prozessbevollmächtigter habe nach Klageeinreichung in einem Telefonat mit dem Rechtsanwalt des Beklagten eine Besprechung mit dem Ziel der Erledigung des Rechtsstreits geführt. Die Richtigkeit seines Vorbringens macht der Kläger durch anwaltliche Versicherung seines Prozessbevollmächtigten glaubhaft. Der hierzu gehörte Beklagte bestreitet, dass es in dem Telefonat um die Erledigung des Rechtsstreits gegangen sei und macht dies seinerseits durch Vorlage einer anwaltlichen Versicherung seines Prozessbevollmächtigten glaubhaft.
Welche Entscheidung wird der Rechtspfleger im Kostenfestsetzungsverfahren über den Kostenfestsetzungsantrag des Klägers hinsichtlich der Terminsgebühr treffen?
II. Lösungen
1. Lösung zu Fall 1
I. Zulässigkeit der Erinnerung
1. Erinnerung unbefristet
Gegen die Entscheidung des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle vom 10.10.2018 ist gem. § 56 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 S. 1 i.V.m. § 33 Abs. 4, 7 und 8 RVG die Erinnerung gegeben, die unbefristet ist. Damit konnte Rechtsanwalt A seine Erinnerung auch noch – wie geschehen – mehr als zwei Jahre nach Zugang der Entscheidung des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle über seinen Festsetzungsantrag einlegen.
2. Keine Verwirkung der Erinnerung
Nach der überwiegenden Auffassung in der Rspr. kann das Erinnerungsrecht des Rechtsanwalts ausnahmsweise nur dann verwirken, wenn die Staatskasse aufgrund eines besonderen Verhaltens des Rechtsanwalts darauf vertrauen durfte, der Rechtsanwalt werde sein Recht auf Einlegung der Erinnerung nicht mehr geltend machen. Allein der Zeitablauf genügt somit nicht. Aufgrund des Verhaltens des Rechtsanwalts A konnte hier die Landeskasse nicht den Schluss ziehen, der Anwalt werde gegen die Absetzung der Terminsgebühr keine Erinnerung einlegen. Somit fehlt es an dem für die Verwirkung des Erinnerungsrechts erforderlichem Umstandsmoment.
3. Begründetheit der Erinnerung
Die Auffassung, dass dem Rechtsanwalt die Terminsgebühr nach Nr. 1 der Anm. zu Nr. 3106 VV auch für die Mitwirkung beim Abschluss eines schriftlichen außergerichtlichen Vergleichs anfallen kann, setzt sich in der Rspr. immer mehr durch. Auch das dem SG Berlin im Rechtszug übergeordnete LSG Berlin-Brandenburg vertritt diese Auffassung. I.Ü. genügt auch nach der durch das Kostenrechtsänderungsgesetz 2021 geänderten Fassung der Nr. 1 der Anm. zu Nr. 3106 VV ab 1.1.2021 der Abschluss eines schriftlichen Einigungsvertrags.