1. Gesetzliche Voraussetzungen
Nach Nr. 1010 VV fällt für besonders umfangreiche Beweisaufnahmen in Angelegenheiten, in denen sich die Gebühren nach Teil 3 VV richten und mindestens drei gerichtliche Termine stattfinden, in denen Sachverständige oder Zeugen vernommen werden, eine 0,3-Gebühr an. Vorliegend wurde in den Terminen vom 8.1.2021, 30.6.2021 und 11.2.2022 jeweils ein Zeuge vernommen. Damit waren nach Auffassung des OLG Hamburg die Voraussetzungen für den Anfall der Zusatzgebühr erfüllt.
2. "Besonders umfangreiche Beweisaufnahme"
Insbesondere in der Lit. ist es umstritten, ob der gesetzlichen Formulierung "besonders umfangreiche Beweisaufnahme" in Nr. 1010 VV eine eigenständige Bedeutung zukommt und deshalb im Kostenfestsetzungsverfahren gesondert zu prüfen ist oder ob eine "besonders umfangreiche Beweisaufnahme" bereits dann gegeben ist, wenn drei gerichtliche Termine stattgefunden haben, in denen Zeugen oder Sachverständige vernommen wurden.
a) Besonderer Umfang der Beweisaufnahme im Einzelfall zu prüfen
Nach einer Auffassung ergibt sich bereits aus dem Gesetzeswortlaut, der den besonderen Umfang und die Mindestanzahl der Beweistermine kumulativ benennt, dass der besondere Umfang der Beweisaufnahme im Einzelfall geprüft werden muss (NK-GK/Hagen Schneider, 3. Aufl., 2021, Nr. 1010 VV Rn 4; Riedel/Sußbauer/Schütz, RVG, 10. Aufl., 2015, Nr. 1010 VV Rn 5; Hartung/Schons/Enders, RVG, 3. Aufl., 2017, Nr. 1010 VV Rn 10; Toussaint/Uhl, Kostenrecht, 54. Aufl., 2024, Nr. 1010 VV Rn 10f; Schneider/Thiel, AGS 2013, 53, 54).
b) Besonderer Umfang der Beweisaufnahme indiziert
Nach der wohl überwiegenden Gegenauffassung ist der besondere Umfang der Beweisaufnahme durch die Durchführung von mindestens drei Beweisterminen indiziert. Die Regelung, dass mindestens drei gerichtliche Termine stattgefunden haben müssen, in denen Sachverständige oder Zeugen vernommen worden sind, stelle letztlich eine Legaldefinition des besonderen Umfangs der Beweisaufnahme dar (Gerold/Schmidt/Mayer, RVG, 25. Aufl., 2021, Nr. 1010 VV Rn 1; HK-RVG/Erik Kießling, 8. Auf., Nr. 1010 VV Rn 4; Bischoff/Bräuer, RVG, 9. Aufl., 2021, Nr. 1010 VV Rn 2; Beck OK RVG/Sefrin, 57. Ed., Nr. 1010 VV Rn 2; Hansens, RVGreport 2013, 410, 411; in der Tendenz ebenso OLG München AGS 2020, 374 = RVGreport 2020, 340 [Hansens] = zfs 2020, 467 m. Anm. Hansens).
c) Die Auffassung des OLG Hamburg
Das OLG Hamburg sieht die letztgenannte Auffassung als vorzugswürdig an. Der Gesetzeswortlaut lasse zwar beide Auslegungen zu. Es sei aber systemwidrig, den Anfall einer Gebühr vom Umfang der anwaltlichen Tätigkeit abhängig zu machen. Dieser Umfang sei bei den Rahmengebühren lediglich für die Gebührenhöhe entscheidend. Folglich sei der Aufwand des Rechtsanwalts allenfalls bei der Gebührenhöhe, niemals aber bereits bei der Frage zu berücksichtigen, ob überhaupt eine Gebühr entstehe.
Ferner hat das OLG Hamburg darauf hingewiesen, dass bereits der Umstand, dass ein Rechtsanwalt sich dreimal auf eine Beweisaufnahme vorbereiten und diese anwaltlich begleiten muss, ausreichen dürfte, von einem besonderen Umfang auszugehen. Dabei komme es nicht zusätzlich auf die Länge der Vernehmung der Zeugen oder Sachverständigen an.
Ferner hat das OLG darauf verwiesen, bei dem Kostenfestsetzungsverfahren handele es sich um ein auf den Rechtspfleger übertragenes Massenverfahren, das einer formalisierten zügigen und möglichst unkomplizierten Abwicklung bedürfe (BGH AGS 2019, 144 m. Anm. N. Schneider = RVGreport 2019, 148 [Hansens] = zfs 2019, 225 m. Anm. Hansens; BGH NJW 2015, 70 = RVGreport 2014, 474 [Ders.]; BGH AGS 2017, 146 = RVGreport 2017, 66 [Ders.] = zfs 2017, 106 m. Anm. Hansens). Unter Hinweis auf die Ausführungen des OLG München, a.a.O., hat das OLG Hamburg argumentiert, dass der Rechtspfleger mit der Anwendung und Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs des besonderen Umfangs der Beweisaufnahme und der Prüfung des Umfangs im Einzelfall erheblich und sachfremd belastet wäre. Der Rechtspfleger sei zudem mit dem Rechtsstreit erstmals im Kostenfestsetzungsverfahren befasst.
d) Besonders umfangreiche Beweisaufnahme
Nach Auffassung des OLG Hamburg bedurfte diese Rechtsfrage jedoch vorliegend keiner abschließenden Entscheidung. Denn hier sei von einem besonderen Umfang der Beweisaufnahme auszugehen. Hierfür hat das OLG angeführt, der vorliegende Rechtsstreit habe sich über mehr als drei Jahre erstreckt, in drei Terminen sei einmal eine Partei ausführlich angehört und insgesamt drei Zeugen vernommen worden. Mindestens für den Termin vom 8.1.2021 sei ein erhöhter Aufwand und Umfang durch das Protokoll belegt.