Vorbem. 4 Abs. 4 VV RVG; § 147 Abs. 5 S. 2 StPO; § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 S. 1 und 2 StGB
Leitsatz
Ein Beschuldigter befindet sich "nicht auf freiem Fuß", wenn im Ausland Haft vollstreckt wird. Das gilt auch dann, wenn es sich nicht um Auslieferungshaft i.e.S. handelt, sondern um Strafhaft, aber im gerichtlichen Auslieferungsverfahren im Wege der vertragslosen Rechtshilfe um die Überstellung des – sich nach rechtskräftiger Verurteilung derzeit dort in Strafhaft befindlichen – Beschuldigten in die Bundesrepublik Deutschland ersucht worden ist.
BGH, Beschl. v. 10.3.2021 – 2 BGs 751/20
I. Sachverhalt
Der Generalbundesanwalt (GBA) führte gegen den Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland ("Islamischer Staat") gem. § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 S. 1 und 2 StGB. Der Beschuldigte befindet sich seit etwa August 2017 in der Gefangenschaft kurdischer Kräfte im Irak. In dem Verfahren hat der Ermittlungsrichter des BGH am 6.10.2017 gegen den Beschuldigten einen Haftbefehl erlassen. Maßgeblich hierfür waren die im Jahre 2018 erfolgten Auswertungen sichergestellter Datenträger, etwa solche einer gesondert Verfolgten H, und Zeugenvernehmungen. Verdeckte Maßnahmen wurden nicht geführt.
Auf einen Akteneinsichtsantrag des Verteidigers des Beschuldigten vom 19.8.2019 hin gewährte der GBA am 23.8.2019 teilweise Akteneinsicht. Ein weiteres Akteneinsichtsgesuch des Verteidigers vom 8.9.2020 lehnte der GBA am 10.9.2020 ab und führte hierzu aus, dass weitergehende Akteneinsicht derzeit nicht gewährt werden könne, da "die Ermittlungen nicht abgeschlossen" seien. Hiergegen wendete sich der Verteidiger mit seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung. Der GBA hat beantragt, den Antrag als unzulässig zurückzuweisen. Der Antrag sei unstatthaft, da die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen seien und eine in § 147 Abs. 5 S. 2 StPO benannte Ausnahmekonstellation nicht gegeben sei; insbesondere erfolge derzeit keine Freiheitsentziehung aufgrund des durch den Generalbundesanwalt geführten Ermittlungsverfahrens. I.Ü. sei die Versagung auch zu Recht erfolgt, da "bei umfassender Akteneinsicht" eine Gefährdung des Untersuchungszwecks zu besorgen sei. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 147 Abs. 5 S. 2 StPO war nach Auffassung des Ermittlungsrichters des BGH zulässig und hatte auch in der Sache Erfolg.
II. Statthaftigkeit des Antrags
Über die Gewährung der Akteneinsicht entscheidet im Strafverfahren im Verfahrensabschnitt "Vorbereitendes Verfahren" gem. § 147 Abs. 5 S. 1 Hs. 1 StPO die Staatsanwaltschaft. Versagt diese die Akteneinsicht, so kann gem. § 147 Abs. 5 S. 2 StPO gerichtliche Entscheidung beantragt werden, wenn die Staatsanwaltschaft den Abschluss der Ermittlungen in der Akte vermerkt hat, die Einsicht in privilegierte Unterlagen nach § 147 Abs. 3 StPO versagt worden ist oder der Beschuldigte sich nicht auf freiem Fuß befindet. In dem Zusammenhang nimmt der BGH dazu Stellung, wenn der Beschuldigte sich nicht auf freiem Fuß (§ 147 Abs. 5 S. 2 Alt. 3 StPO) befindet.
III. Haft im Ausland reicht
Hierfür sei – so der BGH – grds. ausreichend, dass sich der Beschuldigte im nämlichen Ermittlungsverfahren in Untersuchungshaft (§§ 112, 127b StPO) oder in einer einstweiligen Unterbringung befinde (§ 126a StPO; vgl. BGH NStZ-RR 2012, 16), nach weitergehender Ansicht solle sogar Haft in anderer Sache ausreichen (vgl. etwa LR/Jahn, 27. Aufl., § 147 Rn 206 f. m.w.N.; Tsambikakis, in: FS Richter [2006], S. 529, 530; vgl. auch BGHSt 49, 317, 330). Dies gelte gleichermaßen bei im Ausland vollstreckter Auslieferungshaft, wenn die Akteneinsicht in dem Auslieferungsersuchen zugrundeliegende Strafverfahren versagt worden sei (vgl. LG Regensburg StV 2004, 369; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., 2021, § 147 Rn 39; KK-StPO/Willnow, 8. Aufl., 2019, § 147 Rn 26; SSW/Beulke, 4. Aufl., 2019, § 147 Rn 50; SK-StPO/Wohlers, 5. Aufl., § 147 Rn 111; LR/Jahn, StPO, 26. Aufl., § 147 Rn 207).
IV. Gesetzeswortlaut, Systematik
Zu dieser Auslegung kommt der BGH durch das Abstellen auf den Gesetzeswortlaut, der weit gefasst sei und – anders als etwa § 51 Abs. 3 S. 1 StGB (vgl. hierzu etwa BGH, Beschl. v. 5.8.2020 – 3 StR 231/20) – keine Konkretisierung des Grundes der Freiheitsentziehung enthalte. Der Gesetzeshistorie sei – so der BGH – kein eindeutiger Hinweis auf die hier inmitten stehende Konstellation zu entnehmen (vgl. a. BT-Drucks 14/2525, 28). Das Ergebnis einer systematischen Betrachtung der Vorschrift zeige ebenfalls auf, dass der Zugang zum Rechtsschutz nach § 147 Abs. 5 S. 2 StPO im Falle von Freiheitsentziehungen keinen zu strengen rechtlichen Anforderungen zu unterwerfen sei (vgl. dazu nur Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 141 Rn 16 und § 140 Abs. 1 Nr. 5, § 143 Abs. 2 S. 2 StPO). Dem liege der Gedanke zugrunde, dass während einer Anstaltsunterbringung eine Vorbereitung und Durchführung der eigenen Verteidigung nur eingeschränkt möglich sei (vgl. BT-Drucks 19/13829, 45; LR/Jahn, a.a.O., § 141 Rn 25).
V. Formlose Überstellung beantragt
Gemessen hieran weist nach Auffassung des BGH die derzeitige Inhaftierung d...