Prof. Dr. jur. Tobias Huep
Mögliche Änderung der BAG-Rechtsprechung
Am 14.12.2023 hat der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts die Absicht mitgeteilt, seine bisherige Rechtsprechung zur Auswirkung unterlassener oder fehlerhafter Massenentlassungsanzeigen aufgeben zu wollen. Danach könnten Kündigungen zukünftig trotz unterbliebener oder fehlerhafter Massenentlassungsanzeige wirksam sein. Die betreffenden Verfahren wurden zunächst ausgesetzt und der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts wurde angefragt, ob dieser an der bisherigen Rechtsauffassung weiterhin festhält.
Bei Massenentlassungen hat der Arbeitgeber der Agentur für Arbeit schriftlich Anzeige zu erstatten. Örtlich zuständig ist die Agentur, in deren Zuständigkeitsbereich die sozioökonomischen Auswirkungen der Entlassungen eintreten. Dies wird (vgl. § 327 Abs. 4 SGB IV) regelmäßig der Ort sein, in welchem der betroffene Betrieb ansässig ist.
Die Anzeige muss rechtzeitig vor Ausspruch der Kündigungen, aber nach dem abgeschlossenen Anhörungsverfahren des Betriebsrats erfolgen. Die Meldung der Arbeitnehmer als arbeitssuchend entbindet den Arbeitgeber nicht von seiner Anzeigepflicht.
Erfasst werden auch "andere Beendigungen des Arbeitsverhältnisses". Dazu zählen Änderungskündigungen und Aufhebungsverträge; streitig ist, ob auch Arbeitnehmer erfasst werden, die in eine Transfergesellschaft wechseln. Auf den jeweiligen Kündigungsgrund kommt es nicht an. Nicht einbezogen werden außerordentliche Kündigungen.
Der Betrieb muss mindestens 21 Arbeitnehmer beschäftigen. Möglich ist die Errichtung einer gemeinsamen Einrichtung verbundener Konzernunternehmen, die den Entlassungen in einem der Unternehmen zustimmen muss. Ausgenommen sind durch die Eigenart der Betriebe bedingte Entlassungen bei Saison- und Kampagnebetrieben. Der Betriebsrat ist gemäß § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG zu beteiligen. Er muss durch den Arbeitgeber schriftlich mindestens in dem dort vorgegebenen Umfang unterrichtet werden. Die Unterrichtung des Betriebsrats ist parallel der Agentur für Arbeit zuzuleiten. Die (nachfolgende) Stellungnahme des Betriebsrats wiederum ist gem. § 17 Abs. 3 der Anzeige zu ihrer Wirksamkeit beizufügen.; eine Abschrift der Massenentlassungsanzeige ist dem Betriebsrat zuzuleiten.
Art der Beteiligung muss ersichtlich sein
Die sonstigen betriebsverfassungsrechtlichen Beteiligungsrechte hat der Arbeitgeber zusätzlich zu wahren. Er muss dem Betriebsrat gegenüber eindeutig zu erkennen geben, welche Beteiligungspflicht er gerade erfüllen will. Eine nachträgliche Zuordnung oder eine Nachholung der Beteiligung scheidet aus.
Ein etwaiger Verstoß gegen § 17 Abs. 3 Satz 6 KSchG (Übermittlung einer Abschrift der Massenentlassungsanzeige an den Betriebsrat) führt nicht zur Unwirksamkeit der betroffenen Kündigungen, da die Vorschrift nur der Information des Betriebsrats dient und kein gesetzliches Verbot begründet. Ebenso führt auch ein Verstoß gegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG (der die Übermittlung einer Abschrift der an den Betriebsrat gerichteten Mitteilung an die Agentur für Arbeit vorsieht) nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung.
Nach Zugang der Anzeige bei der Arbeitsagentur tritt eine grundsätzlich einmonatige Kündigungssperrfrist ein, die der Wirksamkeit von Entlassungen entgegensteht. Die Entlassungen können erst danach und nur innerhalb der Freifrist von 90 Tagen erfolgen. Solange die Anzeige nicht erstattet ist, sind die anzeigepflichtigen Entlassungen unwirksam. Gegen den ablehnenden Verwaltungsakt der Agentur für Arbeit ist Widerspruch und sozialgerichtliche Klage des Arbeitgebers möglich. Will der Arbeitnehmer daraus Rechte ableiten, muss er sich auf die fehlende Anzeige berufen.