Leitsatz (amtlich)

I. Der Arbeitgeber darf dem Arbeitnehmer im Rahmen der vor Ausspruch sogenannter „Verdachtskündigung” obligatorischen Anhörung u.a. keine Erkenntnisse vorenthalten, die er im Zeitpunkt der Anhörung bereits gewonnen hat und die seiner Ansicht nach den Verdacht begründen (wie Mario Eylert/Anne Friedrichs, DB 2007, 2203, 2205 [II.3.]). Außerdem hat er dem Arbeitnehmer Gelegenheit zu geben, entweder einen Rechtsanwalt hinzuzuziehen oder sich über einen Rechtsanwalt innerhalb einer bestimmten Frist schriftlich zu äußern (wie LAG Berlin-Brandenburg, 6.11.2009 – 6 Sa 1121/09 – LAGE § 626 BGB 2002 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 8 [Leitsatz]).

II. Diesen Anforderungen wird es nicht gerecht, wenn der Arbeitgeber den arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmer lediglich auffordert, sich im Rahmen einer Telefonkonferenz gegenüber drei Sachwaltern zu zuvor nicht im Einzelnen kenntlich gemachten Vorwürfen mündlich zu äußern und sich bei dieser Gelegenheit mit „Stift und Zettel” Notizen als Gedächtnisstütze zu machen. Verweigert der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer in solcher Lage die von diesem erbetene Verschriftlichung der Anhörungsprozedur, so ist die stattdessen erklärte Verdachtskündigung offensichtlich rechtsunwirksam.

 

Tenor

I. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die Kündigung im Schreiben vom 28. Februar 2012, noch durch die im Schreiben vom 7. März 2012 aufgelöst worden ist (oder aufgelöst wird).

II. Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.

III. Der Wert der Streitgegenstände wird für dieses Teilurteil auf (4 × 4.350,– Euro =) 17.400,– Euro festgesetzt.

 

Tatbestand

Es geht um auf Gründe im Verhalten gestützte – vorzugsweise fristlose – sogenannte „Verdachtskündigung”. – Vorgefallen ist dies:

I. Der (heute[1]) 53-jährige Kläger trat im Juli 2008 als „Pharmaberater”[2] in die Dienste der Beklagten, die mit rund 130 Beschäftigten ein Arzneimittelunternehmen betreibt. Der nach Erscheinungsbild und Diktion von der Beklagten gestellte Vertrag trifft unter anderem folgende Bestimmungen:

„2.3. Der Vertragspartner wird an 5 Tagen in der Woche Ärzte und Apotheker besuchen. Im Rahmen seiner Tätigkeit wird er gegebenenfalls gelegentlich auch Touren mit Übernachtungen außerhalb seines Wohnsitzes durchführen. Die ihm übergebene Adressenkartei ist anhand von Ärzteverzeichnissen ständig zu aktualisieren. Die Berichterstattung erfolgt nach den für unser Haus festgelegten Richtlinien”

Der Kläger bezog zur Zeit der Ereignisse, die den Hintergrund des Rechtsstreits bilden, eine monatliche Vergütung von 4.350,– Euro (brutto)[3].

II. Mit besagten „Ereignissen” hat es folgende Bewandtnis:

1. (Spätestens[4]) Ende Januar 2012 gewann der für den Betreuungsbereich des Klägers[5] zuständige Regionalleiter der Beklagten, Herr J. U., nach deren Angaben den Eindruck, dass seine Besuchsfrequenz hinter der von ihm im Dokumentationssystem „Customax” hinterlegten Berichterstattung zurückbleibe.

Zur Veranschaulichung[6]: Der Berichterstattung des Klägers (s. Urteilsanlage II.) zufolge, hatte dieser den Arzt Herrn Dr. M. E. zuletzt am 24. Oktober, 18. November, 12. Dezember 2011 sowie am 11. Januar 2012 persönlich aufgesucht. – Dieser habe Herrn U. jedoch bei einem Termin am 2. Februar 2012, zu dem Dr. E. den Vorgesetzten des Klägers Ende Januar 2012 aufgefordert hatte, erklärt, der Kläger sei „seit September nicht mehr in der Praxis gewesen”, „nicht einmal vor den Feiertagen zum Jahresende”. Allerdings habe Herr Dr. E. „bestätigt”, dass der Kläger – wie im System auch dokumentiert – „am 04. Januar 2012 da gewesen sei und die GRAZAX-Marktforschung abgegeben” habe. Nach diesem 4. Januar 2012 sei der Kläger jedoch nicht mehr in der Praxis gewesen. Indessen sei im System (s. Urteilsanlage II.) nicht der 4. Januar 2012, sondern der 11. Januar 2012 (und ein weiterer Termin am 8. Februar 2012) registriert. Demgegenüber habe Herr Dr. E. gegenüber Herrn U. in einem Folgetermin am 17. Februar 2012 noch einmal ausdrücklich „bestätigt”, dass der Kläger seit 4. Januar 2012 nicht erneut bei ihm gewesen sei.

Dies nahm Herr U. zum Anlass, ab 3. Februar 2012 besagten Eindrücken durch Überprüfung von Besuchsberichten des Klägers nachzugehen. Während die Sichtweisen und Darstellungen der Parteien zu den Ergebnissen dieser Überprüfung und deren Belastbarkeit – weit – auseinander gehen (s. dazu noch unten, S. 9 [2.]; S. 10 [vor X.]), steht immerhin fest, dass sich für die Sachwalter der Beklagten eine Fülle von „Unregelmäßigkeiten” und „Verdachtsmomenten” (Beklagte) ergeben habe.

2. Fest steht auch, dass es nach den Wünschen von Herrn U. hierzu am 13. Februar 2012 zu einem (ersten) – dem Kläger allerdings nicht angekündigten – Gespräch kommen sollte, dessen Begleitumstände und Inhalte die Parteien im Rechtsstreit – gleichfalls – divergierend darstellen:

a. So lässt die Beklagte dies unterbreiten[7]:

„In einem Personalgespräch am 13. Februar 2012, welches Herr U. mit dem Kläger führte, um Gelegenheit zur Klärung der ...

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