Entscheidungsstichwort (Thema)
Betriebsänderung in Etappen. Interessenausgleich. Namensliste. Einheitliche Betrachtung mehrerer Interessenausgleiche. Sozialpunkte. Sozialauswahl. grobe Fehlerhaftigkeit. Betriebsänderung. Gesamtmaßnahme. Interessenausgleich mit Namensliste. grob fehlerhafte Sozialauswahl
Leitsatz (amtlich)
1) Eine betriebliche Umstrukturierungsmaßnahme, die für sich allein keine Betriebsänderung im Sinne von § 111 Abs.1 Satz 1 BetrVG darstellt, kann Bestandteil einer mehrere Umstrukturierungsmaßnahmen umfassenden Betriebsänderung sein, wenn alle einzelnen Umstrukturierungsmaßnahmen auf einer einheitlichen unternehmerischen Gesamtplanung basieren.
2) Vollzieht sich die Gesamt-Umstrukturierung in mehreren – zeitlich getrennten – Etappen, kann für jede Etappe ein Interessenausgleich nach § 111 Abs.1 Satz 1 BetrVG abgeschlossen und mit einer Namensliste nach § 1 Abs.5 KSchG verbunden werden.
3) Findet eine Namensliste nur deshalb eine Legitimationsgrundlage, weil der Interessenausgleich, dessen Bestandteil sie ist, gemeinsam mit weiteren Interessenausgleichen mit Namensliste im vorstehenden Sinne auf einer Gesamt-Umstrukturierung und einer unternehmerischen Gesamtplanung basiert, so ist auch im weiteren von einer Einheit dieser Interessenausgleiche mit Namensliste auszugehen. Die sich in der einen Namensliste abbildende soziale Auswahl ist unter Einbezug der sozialen Auswahl, wie sich in den anderen Namenslisten abbildet, nach § 1 Abs.5 Satz 2 KSchG auf grobe Fehlerhaftigkeit zu überprüfen.
4) Die zeitlich später geschaffene Namensliste beruht dann auf einer grob fehlerhaften sozialen Auswahl, wenn nach einer Vergabe von Sozialpunkten anhand der Kriterien Betriebszugehörigkeit, Lebensalter und Unterhaltspflichten ein sozialpunktreicher Beschäftigte in die zeitlich später geschaffene Namensliste aufgenommen wird, deutlich sozialpunktschwächere Beschäftigte dort nicht aufgenommen werden, und in die zeitlich früher geschaffene Namensliste konsequent nur die sozialpunktschwächsten Beschäftigten aufgenommen wurden.
5) So liegt eine grob fehlerhafte soziale Auswahl vor, wenn eine Namensliste die Beschäftigten mit den wenigsten Sozialpunkten (zwischen 36 und 65) aufführt, die sechs Wochen später geschaffene Namensliste dagegen einen einzigen Beschäftigten mit 85 Sozialpunkten, während weitere vergleichbare Beschäftigte mit zwischen 66 und 82 Sozialpunkten ungekündigt bleiben.
Normenkette
KSchG § 1 Abs. 5; BetrVG § 111 Abs. 1
Tenor
I. 1.
Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen dem Kläger und der Insolvenzschuldnerin durch die Kündigung des Beklagten zu 1) mit Schreiben unter dem 29. Juni 2005 nicht aufgelöst worden ist.
2.
Es wird festgestellt, dass seit dem 10. Juli 2005 ein Arbeitsverhältnis zwischen dem Kläger und der Beklagten zu 2 zu den Bedingungen des Arbeitsverhältnisses zwischen dem Kläger und der Insolvenzschuldnerin besteht.
II.
Von den Kosten des Rechtsstreits haben bei einem zur Festsetzung vorgesehenen gerichtlichen Gebührenstreitwert von 11.736,90 EUR der Kläger 1/21, der Beklagte zu 1) 10/21 und die Beklagte zu 2) weitere 10/21 zu tragen.
III.
Der Wert der Beschwer durch dieses Urteil wird für den Beklagten zu 1) und für die Beklagte zu 2) auf jeweils 5.589,– EUR festgesetzt.
Tatbestand
Der Kläger und der Beklagte zu 1) streiten über die Rechtswirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung, der Kläger und die Beklagte zu 2) über den Fortbestand eines Arbeitsverhältnisses.
Der Kläger und die Insolvenzschuldnerin begründeten zum 1. November 1989 ein Arbeitsverhältnis. Der Kläger wurde als Kraftfahrer tätig und erhielt zuletzt eine monatliche Bruttovergütung in Höhe von 1.863,– EUR. Er geriet mit seiner Arbeitsvertragspartnerin in Streit über eine sog. Fuhrparkkoordinatorzulage, was zu Rechtsstreitigkeiten vor dem Arbeitsgericht bzw. Landesarbeitsgericht Berlin zu den Aktenzeichen 5 Ca 2340/02, 18 Sa 1310/02, 1 Ca 12875/03, 84 Ca 4737/04, 16 Sa 1338/04, 4 Ca 31678/04 führte.
Die Insolvenzschuldnerin ist auf den Handel mit exklusiven Lebensmitteln spezialisiert. Wegen der Unternehmensgeschichte und -tätigkeit sowie die Struktur der Disposition wird auf die Darstellung Bl. 38 f. d. A. Bezug genommen. Am 19. Januar 2005 musste die Insolvenzschuldnerin einen Insolvenzantrag stellen. Zu diesem Zeitpunkt beschäftigte sie 199 gewerbliche Mitarbeiter, 95 Angestellte und 11 Auszubildende.
Am 1. Mai 2005 wurde die Insolvenz über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin durch das Amtsgericht Bonn zum Aktenzeichen … eröffnet. Der Beklagte zu 1) wurde zum Insolvenzverwalter bestellt. Zwischen ihm und dem bei der Insolvenzschuldnerin gebildeten Gesamtbetriebsrat kam unter dem 17. Mai 2005 ein Interessenausgleich mit Namensliste zustande. Er sah u. a. vor, dass am Betriebsstandort Berlin – einem der fünf Standorte im Bundesgebiet – in Umsetzung eines Sanierungskonzeptes Kündigungen ausgesprochen werden müssen. Hiervon sollten von den achtzehn Mitarbeitern im Berliner Fuhrpark sieben Mitarbeiter betroffen sein...