Entscheidungsstichwort (Thema)
Massenentlassungsanzeige
Leitsatz (amtlich)
1. § 17 Abs. 1 KSchG ist unter Berücksichtigung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 27.01.2005 (Rs. C-188/03 – I. J. ./. W. K., NZA 2005, 213 ff.) gemeinschaftsrechtskonform dahingehend auszulegen, dass unter dem Begriff Entlassung in § 17 Abs. 1 KSchG die Abgabe der Kündigungserklärung durch den Arbeitgeber zu verstehen ist.
2. § 17 Abs. 1 KSchG enthält ein gesetzliches Verbot, anzeigepflichtige Kündigungen vor Anzeige bei der Agentur für Arbeit auszusprechen. Rechtsfolge des Verstoßes gegen dieses gesetzliche Verbot ist unter Berücksichtigung des gemeinschafts-rechtlichen Effektivitäts- und Äquivalenzgebots die Unwirksamkeit der Kündigung. Eine Kündigung, die nach § 17 Abs. 1 KSchG bei der Agentur für Arbeit anzeigenpflichtig ist, ist daher gem. § 134 BGB unwirksam, wenn die Anzeige nach Zugang der Kündigung erfolgte.
3. Es bleibt unentschieden, ob sich der Arbeitgeber, der bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 27.01.2005 seine Verpflichtung aus § 17 KSchG nach Maßgabe der bisherigen Rechtsprechung des BAG erfüllt hat und deshalb die Massenentlassungsanzeige nicht vor Ausspruch der Kündigung, sondern erst vor der tatsächlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses vorgenommen hat, im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgericht vom 28.9.1992 (1 BvR 496/87, NZA 1993, 79) überhaupt auf einen etwaigen Vertrauensschutz berufen kann. Jedenfalls seit der Veröffentlichung des Schlussantrags von Generalanwalt Tiziano vom 30.09.2004 (RSC-188/03, ZIP 2004, 2019) bestand kein schutzwürdiges Vertrauen mehr, dass auch weiterhin erst nach Ausspruch der Kündigungserklärung die Anzeige bei der Agentur für Arbeit erstattet werden muss.
Normenkette
KSchG § 17 ff.
Tenor
I. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung des Beklagten vom 18.01.2005 nicht aufgelöst wurde.
II. Die Kosten des Rechtsstreits hat der Beklagte zu tragen.
III. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.222,10 EUR festgesetzt.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung.
Der am ….1956 geborene, verheiratete Kläger, der vier Kindern zum Unterhalt verpflichtet ist, ist seit dem 01.09.1972 bei der Schuldnerin, die ca. 125 Arbeitnehmer beschäftigte, gegen einen Stundenlohn von zuletzt 10,30 EUR brutto tätig. Seit ca. 1990 war der Kläger im Bereich der Blechfertigung u.a. als konventioneller Fräser eingesetzt. In der Zeit von April 2004 bis zum 15.09.2004 absolvierte der Kläger eine Weiterbildung zum CNC-Fräser. Wegen des Inhalts des zuletzt gültigen Arbeitsvertrages des Klägers wird auf die zur Akte gereichte Kopie (Bl. 3 ff. d.A.) Bezug genommen.
Über das Vermögen der Schuldnerin wurde durch Beschluss des Amtsgerichts Ch. vom 01.01.2005 (Az.: IN 5908/04) das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte als Insolvenzverwalter bestellt.
Ende Dezember 2004 führte der Beklagte zusammen mit dem damaligen Geschäftsführer der Schuldnerin und dem Betriebsrat erste Gespräche mit einem potentiellen Erwerber der Schuldnerin. Dieser plante, den Geschäftsbetrieb der Schuldnerin mit 43 Arbeitnehmern, sechs Lehrlingen und neun Arbeitnehmern in Altersteilzeit, davon vier in der Frei- und fünf in der Arbeitsphase, fortzuführen. Wegen der genauen Zusammensetzung dieser Arbeitnehmer, ihrer Namen und ihrer Tätigkeit wird auf die zur Akte gereichte Übersicht (Bl. 169 f. d.A.) Bezug genommen. Der Investor vereinbarte mit dem Beklagten in der Folgezeit eine Betriebspacht, die zur Zeit noch andauert.
Auf der Grundlage des vom Erwerber vorgelegten Konzeptes vereinbarte der Beklagte mit dem Betriebsrat am 14.01.2005 einen Interessenausgleich mit Namensliste, der eine Personalreduzierung von insgesamt 68 Mitarbeitern zum Gegenstand hat. Wegen des genauen Inhalts des Interessenausgleichs wird auf die zur Akte gereichte Kopie (Bl. 54 ff. d.A.) Bezug genommen. Der Kläger ist auf der Namensliste (Anlage 2 zum Interessenausgleich) unter der laufenden Nummer 45 aufgeführt.
Im Rahmen der Verhandlungen über den Interessenausgleich am 12.01.2005 hörte der Beklagte den Betriebsrat zur beabsichtigten betriebsbedingten Kündigung des Klägers an. Wegen des Inhalts dieser Anhörung wird auf das in Kopie zur Akte gereichte Protokoll vom 12.01.2005 (Bl. 148 f. d.A.) Bezug genommen.
Nach Abschluss des Interessenausgleichs kündigte der Beklagte den in der Namensliste genannten Arbeitnehmern. Der Kläger erhielt seine Kündigung mit Schreiben vom 18.01.2005 am 22.01.2005.
Mit Schreiben vom 19.01.2005, bei der Bundesagentur für Arbeit am 27.01.2005 eingegangen, zeigte der Beklagte der Bundesagentur die Entlassung von insgesamt 67 Arbeitnehmern und 3 Auszubildenden zum 28.02., 31.03. und 30.04.2005 an. Mit Schreiben vom 01.02.2005 teilte die Bundesagentur dem Beklagten mit, dass die Sperrfrist am 27.02.2005 endet.
Mit seiner am 03.02.2005 beim Arbeitsgericht Berlin eingegangenen Klage wendet der Kläger sich gegen die Wirksamk...