Entscheidungsstichwort (Thema)

Kündigung von Schwerbehinderten

 

Leitsatz (amtlich)

Der Arbeitgeber hat die Zustimmung der Hauptfürsorgestelle vor der Kündigung eines Schwerbehinderten auch dann einzuholen, wenn dieser auf Dauer arbeitsunfähig ist.

Der gegenteiligen Ansicht des Bundesarbeitgerichts (AP 11 zu § 14 SchwBG) wird nicht gefolgt.

 

Normenkette

SchwBG § 12 ff.

 

Tenor

1) Es wird festgestellt, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 12.11.1987 nicht aufgelöst wurde.

2) Die Kosten des Rechtsstreits werden der Beklagten auferlegt.

3) Der Wert des Streitgegenstandes wird auf DM 8.166,– festgesetzt.

 

Tatbestand

Der 1934 geborene Kläger ist seit dem 15. Februar 1980 als Arbeiter bei der Beklagten beschäftigt; er verdiente dort zuletzt 2.722,– DM brutto monatlich. Bei der Beklagten sind etwa 15 Arbeitnehmer tätig.

Am 24. Februar 1986 erlitt der Kläger einen Herzinfarkt und ist seitdem arbeitsunfähig. Mit Bescheid des Versorgungsamtes in Gießen vom 13. Februar 1987 wurde der Kläger als Schwerbehinderter anerkannt und der Grad der Behinderung auf 60 % festgesetzt.

Mit Schreiben vom 16. November 1987 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers zum 31. Dezember 1987 ohne zuvor die Zustimmung der Hauptfürsorgestelle einzuholen.

Mit der am 17. November 1987 bei Gericht eingegangenen Klage beantragt der Kläger,

festzustellen, daß sein Arbeitsverhältnis durch die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 12. November 1987 nicht aufgelöst wurde.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte ist der Ansicht, die Kündigung des Klägers sei sozial gerechtfertigt. Die Zustimmung der Hauptfürsorgestelle sei entbehrlich, da der Kläger auf Dauer arbeitsunfähig sei und bereits einen Rentenantrag gestellt habe.

Die Parteien waren mit einer Entscheidung durch den Vorsitzenden einverstanden (§ 55 III ArbGG).

 

Entscheidungsgründe

Der Klage war stattzugeben.

Die von der Beklagten ausgesprochene Kündigung ist bereits deshalb rechtsunwirksam, weil die Beklagte die Zustimmung der Hauptfürsorgestelle nicht eingeholt hat. Diese Zustimmung ist gemäß §§ 12 ff SchwBG vor jeder Kündigung einzuholen; fehlt sie, ist die Kündigung bereits wegen Verstoßes gegen § 134 BGB nichtig. Entgegen der Annahme der Beklagten konnte auch im vorliegenden Fall nicht auf die Zustimmung der Hauptfürsorgestelle verzichtet werden. Das BAG hat zwar in älteren Entscheidungen (AP 1 un 11 zu § 14 SchwBG) die Ansicht vertreten, das Arbeitsverhältnis eines Arbeitnehmers erlösche, wenn er auf Dauer arbeitsunfähig sei. Dieser Auffassung hat sich auch die Literatur angeschlossen (Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, 6. Auflage, § 179 I 5; Wilrodt-Neumann, SchwBG, 6. Auflage, § 12 RNr. 48), doch vermochte das Gericht dieser Ansicht nicht zu folgen. Nach der am 1. Mai 1974 in Kraft getretenen Neufassung des Schwerbehindertengesetzes ist der Kündigungsschutz für Schwerbehinderte erheblich verstärkt worden (KR-Etzel. 2. Auflage, Vorbem. I 1 zu §§ 12–19 SchwBG). Insbesondere ist für Kündigungen von Schwerbehinderten eine umfassende Zustimmungspflicht vorgesehen, für die auch im Falle dauernder Arbeitsunfähigkeit keine Ausnahme zugelassen ist. Das Schwerbehindertengesetz verfolgt den besonderen Schutz der Schwerbehinderten vor Kündigungen, indem es jede Kündigung von der Zustimmung der Hauptfürsorgestelle abhängig macht. Durch die Einschaltung dieser Behörde soll bereits im Vorfeld die Berechtigung der Kündigung besonders geprüft und festgestellt werden. Diesem Sinn und Zweck des Gesetzes widerspricht es, in Fällen dauernder Arbeitsunfähigkeit die Zustimmung für entbehrlich anzusehen. Dies zeigt besonders der hier zu entscheidende Fall, in dem der Rentenantrag des Klägers noch nicht entschieden ist und die Parteien darüber streiten, ob beim Kläger tatsächlich dauernde Arbeitsunfähigkeit gegeben ist. In Fällen dieser Art. ist die Einschaltung der Hauptfürsorgestelle unverzichtbar, und zwar auch deshalb, weil sonst der Streit über die dauernde Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers nicht von der zuständigen Stelle geprüft würde, vielmehr der Entscheidung des Arbeitsgerichts überlassen bliebe, das sich hierzu eines Sachverständigen bedienen müßte. Für die hier vertretene Ansicht spricht auch der – neu eingeführte (KR-Etzel, a.a.O. § 19 SchwBG, Anm. II) – § 19 SchwBG, der die Zustimmung der Hauptfürsorgestelle für Fälle des Eintritts der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit auf Zeit sogar dann fordert, wenn das Arbeitsverhältnis ohne Kündigung endet.

Der Klage wäre aber auch dann stattzugeben, wenn man heute noch der früheren Ansicht des BAGs folgt; denn im vorliegenden Fall steht die dauernde Arbeitsunfähigkeit des Klägers noch nicht fest. Der Kläger hat im Februar 1986 einen Herzinfarkt erlitten und mußte sich im Anschluß daran einer Herzoperation unterziehen. Aus diesem Sachverhalt kann keinesfalls auf eine dauernde Arbeitsunfähigkeit des Klägers geschlossen werden, zumal es gerichtsbekannt ist, daß andere Arbeitnehmer in derartigen Fällen ...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge