Entscheidungsstichwort (Thema)
Geltung eines Altersteilzeit-TV für einen vorher abgeschlossenen Altersteilzeitvertrag. Abfindungsanspruch
Leitsatz (redaktionell)
Nur im Fall von Altersteilzeitvereinbarungen, die vor dem In-Kraft-Treten des Tarifvertrages abgeschlossen worden sind, bestehen Ansprüche auf Zahlung von Abfindungen wegen Altersteilzeit gemäß § 10 des Altersteilzeittarifvertrages für die gewerblichen Arbeitnehmer und die Angestellten der Petri Aktiengesellschaft Aschaffenburg und Albertshausen vom 16.5.2000.
Normenkette
TVG § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Tatbestand
Die Parteien streiten über einen tariflichen Anspruch auf Abfindung wegen Altersteilzeit.
Der 1942 geborene Kläger ist Mitglied der IG Metall. Er war langjährig bei der Beklagten beschäftigt. Am 3. November 1999 schlossen die Parteien eine Altersteilzeitvereinbarung mit einer Laufzeit vom 1. Januar 2000 bis zum 31. Dezember 2002.
Am 16. Mai 2000 vereinbarte die Beklagte mit der IG Metall, Verwaltungsstelle Aschaffenburg, den Altersteilzeittarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer und die Angestellten der P… Aktiengesellschaft A… und Al… vom 16. Mai 2000 (Atz-TV), der am 1. Juni 2000 in Kraft trat. Darin heißt es:
Ҥ 1
Geltungsbereich
Dieser Tarifvertrag gilt räumlich für die Standorte in A… und Al…, sowie persönlich für alle gewerblichen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und alle Angestellten der P… Aktiengesellschaft an diesen Standorten.
§ 2
Anspruch auf Altersteilzeit
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die dem begünstigten Personenkreis des § 2 Altersteilzeitgesetz angehören und das 57. Lebensjahr vollendet haben, erwerben nach Maßgabe der Bestimmungen dieses Tarifvertrages einen Anspruch auf Abschluß eines Altersteilzeitvertrages mit mindestens zweijähriger bis zu sechsjähriger verblockter Altersteilzeit.
Der Anspruch des Arbeitnehmers auf Abschluß eines Altersteilzeitvertrages ist ausgeschlossen, wenn und solange 5 Prozent der Arbeitnehmer des Betriebes von einer Altersteilzeitregelung Gebrauch machen, oder diese Grenze durch den Abschluss eines Altersteilzeitvertrages überschritten würde.
…
§ 4
Vereinbarte Altersteilzeit
Auch wenn im Einzelfall nach den Bestimmungen dieses Tarifvertrages der Anspruch auf Abschluß eines Altersteilzeitvertrages nicht gegeben ist, können Arbeitgeber und Arbeitnehmer ein bis zu 6jährig verblocktes Altersteilzeitverhältnis mit der materiellen Ausstattung dieses Tarifvertrages vereinbaren.
Arbeitnehmer mit Ansprüchen nach § 2 dieses Tarifvertrages sind vorrangig zu berücksichtigen.
…
§ 10
Abfindung
Arbeitnehmer der Geburtsjahrgänge 1942 und später erhalten am Ende ihres Altersteilzeitarbeitsverhältnisses für den Verlust ihres Arbeitsplatzes eine Abfindung.
Die Abfindung errechnet sich aus einem Betrag, der mit der Zahl der vollen Kalendermonate, höchstens mit 48 Kalendermonaten, multipliziert wird, die zwischen der Beendigung des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses und dem Zeitpunkt, an dem der Arbeitnehmer Anspruch auf ungeminderte Altersrente gehabt hätte (spätestens dem Zeitpunkt der Vollendung des 65. Lebensjahres) liegen.
Der Betrag beträgt 800,00 DM oder 409,03 Euro je Monat für vor der Altersteilzeit in Vollzeit beschäftigte Arbeitnehmer. …
…”
Mit seiner Klage macht der Kläger die Abfindung gem. § 10 Atz-TV geltend. Er hat die Auffassung vertreten, die Altersteilzeitvereinbarung vom 3. November 1999 sei keine abschließende Regelung; auch der Atz-TV finde auf sein Arbeitsverhältnis Anwendung. Danach könne er eine Abfindung gem. § 10 Atz-TV rückwirkend beanspruchen.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger eine Abfindung in Höhe von 19.633,44 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz gem. § 247 BGB seit 1. Januar 2003 zu bezahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Mit der Revision verfolgt der Kläger seinen Klageantrag weiter. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zahlung der Abfindung gem. § 10 Atz-TV. Das haben die Vorinstanzen zutreffend erkannt.
I. Der Atz-TV gilt zwar für das Arbeitsverhältnis der Parteien. Die Inhaltsnormen des Atz-TV zur Ausgestaltung des Altersteilzeitvertrages erfassen aber nicht die Altersteilzeitvereinbarungen, die vor dem In-Kraft-Treten des Atz-TV abgeschlossen worden sind.
1. Für das Arbeitsverhältnis der Parteien gelten auf Grund der beiderseitigen Tarifgebundenheit die von der Beklagten abgeschlossenen Haustarifverträge, somit auch der Atz-TV gem. § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG unmittelbar und zwingend. Davon ist das Landesarbeitsgericht ebenfalls – stillschweigend – ausgegangen. Das Arbeitsverhältnis fällt auch unter den räumlichen und persönlichen Geltungsbereich iSv. § 1 Atz-TV; der Kläger ist bei der Beklagten in einem der in § 1 Atz-TV genannten Standorte beschäftigt.
2. § 10 Atz-TV erfasst nicht das vor In-Kraft-Treten des Atz-TV vereinbarte Altersteilzeitverhältnis der Parteien. Das ergibt die Auslegung des Atz-TV.
a) Die Auslegung des normativen Teils des Tarifvertrages folgt nach ständiger Rechtsprechung den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Dabei ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei einem nicht eindeutigen Tarifwortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so der Sinn und der Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden können. Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, dann können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages, ggf. auch die praktische Tarifübung ergänzend hinzuziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse ist zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (ständige Rechtsprechung des BAG, zB Senat 29. August 2001 – 4 AZR 337/00 – BAGE 99, 24, 28 f. = AP TVG § 1 Auslegung Nr. 174 = EzA BGB § 622 Tarifvertrag Nr. 2 mwN).
b) Aus dem Wortlaut des § 10 Atz-TV ergibt sich nicht ausdrücklich, dass die Abfindung nur bei Ende eines Altersteilzeitverhältnisses zu zahlen ist, das nach dessen In-Kraft-Treten abgeschlossen worden ist. Aber schon der Wortlaut der Gesamtregelung des Atz-TV spricht für diese Auslegung. In § 2 Abs. 1 Atz-TV ist bestimmt, dass die dort bezeichnete Arbeitnehmergruppe einen Anspruch auf Abschluss eines Altersteilzeitvertrages “nach Maßgabe der Bestimmungen dieses Tarifvertrages” erwirbt. Damit wird auf die folgenden Bestimmungen über die maßgeblichen Bedingungen des Altersteilzeitverhältnisses verwiesen, ua. auf § 3 (Arbeitszeit während der Altersteilzeit), auf § 5 (Altersteilzeitentgelt), auf § 6 (Aufstockungsbetrag), auf § 8 (Beiträge zur Rentenversicherung) und somit auch auf § 10 (Abfindung). Daraus ergibt sich, dass sich die Regelungen des Atz-TV zu den Bedingungen eines Altersteilzeitverhältnisses auf einen nach diesem Tarifvertrag abgeschlossenen Vertrag beziehen.
Diese Auslegung wird bestätigt durch den aus dem Gesamtzusammenhang erkennbaren Sinn und Zweck der Regelung. Regelungsgegenstand des Atz-TV als einer Gesamtregelung für den Abschluss und den Inhalt von Altersteilzeitverträgen sind die erst nach seinem In-Kraft-Treten abgeschlossenen Verträge. So wird in § 4 Atz-TV bestimmt, dass ein Altersteilzeitverhältnis “mit der materiellen Ausstattung dieses Tarifvertrages” auch vereinbart werden kann, wenn nach den Bestimmungen des Tarifvertrages, dh. nach § 2 Atz-TV ein Anspruch auf Abschluss eines Altersteilzeitvertrages nicht gegeben ist. Auch insoweit liegt eine Verweisung auf die tariflich geregelten Bedingungen des Altersteilzeitverhältnisses vor. Wenn der Tarifvertrag ausdrücklich zum Ausdruck bringt, dass seine Regelungen über die Bedingungen des Altersteilzeitverhältnisses für die gem. §§ 2, 4 Atz-TV abgeschlossenen obligatorischen und freiwilligen Altersteilzeitverträge gelten, gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass damit auch die Bedingungen für Altverträge festgelegt werden sollen. Das gilt umso mehr, als es vorliegend um einen Haustarifvertrag geht und bei den Tarifvertragsparteien die Existenz von Altverträgen als bekannt vorausgesetzt werden kann.
c) Ein rückwirkender Regelungsgehalt entspricht nicht dem aus dem Atz-TV erkennbaren Willen der Tarifvertragsparteien. Für das Altersteilzeitverhältnis des Klägers vom 1. Januar 2000 bis zum 31. Dezember 2002, für das die Bedingungen in dem Vertrag vom 3. November 1999 festgelegt worden sind, würden ansonsten vom Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens des Atz-TV die in diesem festgelegten Bedingungen, also nicht nur die Abfindungsregelung gem. § 10 Atz-TV, gelten, soweit dem nicht das Günstigkeitsprinzip gem. § 4 Abs. 3 TVG entgegensteht. Grundsätzlich ist aber davon auszugehen, dass Tarifnormen ebenso wie Gesetzesnormen nur für die Zukunft gelten. Im Interesse der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit ist für eine Rückwirkung, die sich auf in der Vergangenheit liegende Tatbestände erstreckt, eine klare und unmissverständliche Vereinbarung erforderlich (BAG 21. Juli 1988 – 2 AZR 527/87 – AP TVG § 1 Rückwirkung Nr. 10 = EzA TVG § 4 Bauindustrie Nr. 44 mwN). Eine solche eindeutige Regelung über die Einbeziehung von Altverträgen enthält der Atz-TV gerade nicht. Ob eine rückwirkende Regelung überhaupt wirksam wäre, muss nicht entschieden werden. Im Übrigen ist die tarifliche Regelung, die Bedingungen nur für die zukünftig abgeschlossenen Altersteilzeitverträge festlegt und insoweit abweichende Regelungen in Altverträgen unberührt lässt, als Stichtagsregelung mit dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) vereinbar.
II. Eine andere Grundlage für einen Anspruch des Klägers auf eine Abfindung gem. § 10 Atz-TV ist nicht ersichtlich.
1. Die zwischen den Parteien abgeschlossene Altersteilzeitvereinbarung vom 3. November 1999 enthält keine Bezugnahme auf den – damals noch nicht abgeschlossenen – Atz-TV.
2. Zutreffend hat das Landesarbeitsgericht erkannt, dass der Kläger seinen Abfindungsanspruch nicht auf den Gleichbehandlungsgrundsatz stützen kann. Das folgt schon daraus, dass die Beklagte nicht verpflichtet ist, Abfindungszahlungen, die sie in Erfüllung ihrer tariflichen Verpflichtung an bestimmte Arbeitnehmer zahlt, auf Grund des Gleichbehandlungsgrundsatzes auch denjenigen zu gewähren, denen die Abfindung tariflich nicht zusteht.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO.
Unterschriften
Schmidt, Bott, Wolter, Valentien, H. Hickler
Fundstellen