Entscheidungsstichwort (Thema)
Kündigung wegen Tätigkeit für das MfS
Normenkette
Einigungsvertrag Anlage I Kap. XIX Sachgebiet A Abschn. III Nr. 1 Abs. 5 Ziff. 2, Abs. 4 Ziff. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 21. Mai 1996 – 3 Sa 204/95 – aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung, die der Beklagte auf Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 4 Ziff. 1 der Anlage I zum Einigungsvertrag (fortan: Abs. 4 Ziff. 1 EV) stützt.
Der im Jahre 1945 geborene Kläger war seit dem 1. September 1970 im Polizeidienst der ehemaligen DDR beschäftigt. Nach Besuch verschiedener Lehrgänge wurde er zum Oberleutnant der Volkspolizei ernannt und als Leiter der Schutzpolizei beim Volkspolizei-Kreisamt S. eingesetzt. Das Arbeitsverhältnis wurde vom Beklagten fortgesetzt. In seinem Personalfragebogen vom 24. Januar 1991 erklärte der Kläger, daß er eine Verpflichtung zu inoffizieller Mitarbeit beim Ministerium für Staatssicherheit eingegangen sei. Ergänzend gab er folgende handschriftlich abgefaßte Erklärung ab:
„Hiermit erkläre ich, daß ich im Jahre 1982 der damaligen Kreisdienststelle MfS meine Einwilligung gab, inoffiziell Informationen zu übermitteln.
Wie kam es dazu?
1970 wurde ich Angehöriger der Volkspolizei. Ich hatte mir vorgenommen meinen Dienst gewissenhaft und im Interesse der Allgemeinheit zu verrichten.
Mit den Jahren stellte ich fest, daß Ungerechtfertigkeiten innerhalb der Dienststelle zur Tagesordnung gehörten.
Diese Feststellungen bezogen sich besonders auf höhergestellte Offiziere und Funktionäre. Nicht selten empfand ich, daß einige Herren ihre Dienststellung bzw. Funktion zum eigenen Vorteil ausnutzten.
Da wurde groß gefeiert, sich untereinander beschenkt, regelmäßig Privatfahrten mit Dienst-Kfz durchgeführt und andere Unregelmäßigkeiten zugelassen.
Über derartige Feststellungen sprach ich damals mit einem ehemaligen Mitarbeiter des MfS. Dieser riet mir, über derartige Sachverhalte die Kreisdienststelle zu informieren. Da ich Bedenken hatte, mir könnten daraus Nachteile entstehen, war ich skeptisch. Ich hätte ja unterschreiben müssen. Mir wurde jedoch versichert, daß die Betreffenden keine Kenntnis darüber erhalten werden, woher diese Informationen kommen. Demzufolge willigte ich ein. Ich hatte mit dem Namen „St.” zu unterschreiben. Insgesamt werde ich ca. 5–6 Informationen gegeben haben. Diese Informationen gab ich bis zum Frühjahr 1988.
Mit meiner Arbeit war man jedoch wiederholt unzufrieden. Man wollte andere Inhalte. Ich gab sie auch teilweise, doch waren es Sachverhalte, die allgemein in der Dienststelle bekannt waren. Ein Nachteil erwuchs daraus für niemanden.
Zivilprozesse waren nicht Gegenstand dieser Informationstätigkeit.
Ich kann versichern, daß ich für diese Informationstätigkeit weder finanzielle noch andere Vorteile hatte.
Ich glaubte ganz einfach, etwas verändern zu können.
Diese Erklärung gebe ich erst heute ab, weil ich bisher der Annahme war, daß ich noch gebraucht werde. Jetzt jedoch, die neuen Strukturen werden offiziell festgelegt, möchte ich anderen Kollegen nicht die berufliche Laufbahn versperren.
Ich würde dennoch gern Polizist bleiben.
Einer Einzelüberprüfung würde ich mich stellen.”
Der Beklagte beantragte beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR eine Auskunft über den Kläger. Am 15. Februar 1993 ging ihm der Einzelbericht des Bundesbeauftragten vom 29. Januar 1993 zu. Danach war der Kläger vom 5. August 1982 bis zum 22. November 1988 und erneut vom 5. September 1989 bis „offen” als inoffizieller Mitarbeiter für Sicherheit (IMS) unter dem Decknamen „St.” für das MfS tätig. Grund und Ziel der Werbung waren „Kontrolle und Überwachung vorrangig zu sichernder Personen und Personenkreise aus dem Bereich bewaffneter Organe Mdl/DVP”. Für die Zeit des Direktstudiums des Klägers an der Bezirksparteischule im Zeitraum November 1988 bis September 1989 ruhte die Zusammenarbeit mit ihm. Seine Akten wurden archiviert. Laut Auskunft des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes gab der Kläger in mehr als 50 schriftlichen und mündlichen Berichten Informationen aus dem Dienst- und Privatbereich ihm bekannter Personen weiter. Er habe Geldprämien in Höhe von insgesamt 100,00 Mark erhalten.
Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes übermittelte dem Beklagten die Fotokopie eines vom Kläger dem MfS im Jahre 1988 erstatteten Berichtes mit folgendem Wortlaut:
„Information
- gab an, daß er der Sonderzweckgemeinschaft „(unleserlich)” Bayern angehört
- will (unleserlich) (unleserlich) ≪geschwärzt≫ fotografieren
- wurde von ≪geschwärzt≫ abgelehnt
- Adresse von ≪geschwärzt≫ hatte der BRD-Bürger von seinem Spartenvorsitzenden erhalten, der die Adresse wiederum von Spartenvorsitzenden aus der DDR erhielt
- bei dem Spartenvorsitzenden aus der DDR handelt es sich um einen Bürger ≪geschwärzt≫ ≪geschwärzt≫ ≪geschwärzt≫
- betreffender Bürger war angeblich mit einer Reisegruppe in Neubrandenburg (Hotel „unleserlich”)
- im Anschluß ging der Bürger aus der BRD zusammen mit dem ≪geschwärzt≫ zur Geflügelversammlung ins (unleserlich) Spartenheim
- nahm dort an der Spartenversammlung bis gegen 22.00 Uhrteil
- hatte Kontakt mit ≪geschwärzt≫ und ≪geschwärzt≫
- nach der Versammlung gesellte er sich erneut dem ≪geschwärzt≫ zu und ging bis zum Bahnhof mit
- ≪geschwärzt≫ gab zu verstehen, daß alle geführten Unterhaltungen nur die Tierzucht zum Inhalt hatten
- Angebote wurden nicht gemacht
St.”
Nachdem die Parteien ergebnislos über den Abschluß eines Aufhebungsvertrages verhandelt hatten, kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien mit Schreiben vom 6. Juli 1993 mit Zustimmung des Hauptpersonalrats wegen Tätigkeit des Klägers für das ehemalige Ministerium für Staatssicherheit nach Nr. 1 Abs. 4 Ziff. 1 EV zum 30. September 1993. Das Kündigungsschreiben ging dem Kläger am 14. Juli 1993 zu.
Mit der am 27. Juli 1993 beim Arbeitsgericht eingereichten Klage hat der Kläger geltend gemacht, die Kündigung sei wegen Fehlens eines Kündigungsgrundes unwirksam. Dadurch, daß der Beklagte den Kläger in Kenntnis seiner Tätigkeit für das MfS mehr als zwei Jahre im Polizeidienst weiterbeschäftigt habe, könne er sich nicht mehr auf die Unzumutbarkeit einer Weiterbeschäftigung berufen. Er habe stets seine positive Einstellung zum Polizeidienst gezeigt und sich zur Mitarbeit beim MfS nur verpflichtet, um an der Aufdeckung von Mißständen innerhalb seiner Volkspolizeidienststelle mitzuwirken. Er habe nicht über 50 Berichte geliefert, vielmehr sei er von dem MfS-Führungsoffizier K., der als MfS-Verbindungsoffizier dienstlichen Kontakt zu ihm unterhalten habe und auch sein privater Nachbar gewesen sei, abgeschöpft worden. Der Führungsoffizier habe verschiedene Nachrichten und Informationen ohne Wissen des Klägers zu IM-Berichten verwertet. Er habe, wie er aufgrund einer Einsichtnahme in die MfS-Unterlagen festgestellt habe, dem MfS lediglich 14 Berichte erstattet. Diese hätten ausschließlich Angelegenheiten der Volkspolizei betroffen.
Des weiteren müsse zu seinen Gunsten berücksichtigt werden, daß er am 6. Mai 1993 vom Beklagten eine durchweg positive Beurteilung seiner Dienstleistung erhalten habe.
Im übrigen habe der Beklagte das Kündigungsrecht verwirkt, denn durch das lange Zuwarten sei schutzwürdiges Vertrauen erwachsen, daß ihm aufgrund seiner früheren Tätigkeit für das MfS keine Kündigung mehr drohe.
Der Kläger hat beantragt:
- Es wird festgestellt, daß das Dienstverhältnis zwischen Beklagtem und Kläger durch die Kündigung vom 06.07.1993, dem Kläger zugegangen am 14.07.1993, mit Ablauf des 30.09.1993 nicht aufgelöst wird.
- Es wird festgestellt, daß das Dienstverhältnis zwischen Beklagtem und Kläger über den 30.09.1993 hinaus unter unveränderten Bedingungen fortbesteht.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hat geltend gemacht, ein Festhalten am Arbeitsverhältnis sei unzumutbar. Der Kläger habe über Personen ohne deren Kenntnis konspirativ Berichte geliefert. Das deshalb gerade in Mitarbeiter der Polizei zu setzende Vertrauen sei nicht gewährleistet. Trotz des frühzeitigen Bekenntnisses des Klägers habe eine Zeit erfordernde Einzelfallprüfung durchgeführt werden müssen. Beim Kläger habe kein Vertrauen in das Unterbleiben einer Kündigung entstehen können. Vielmehr habe er selbst mehrfach wegen einer Entscheidung nachgefragt. Die Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung ergebe sich aus der Intensität der Tätigkeit des Klägers unter Bevorzugung der Kollegenschaft als Bespitzelungsobjekt. Die Weiterbeschäftigung sei weder gegenüber den bespitzelten Kollegen noch gegenüber der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Die beanstandungslose Dienstführung des Klägers führe nicht zur Zumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses. Ob der Kläger zum Teil von seinem MfS-Führungsoffizier abgeschöpft worden sei, besitze für die Wirksamkeit der Kündigung keine Bedeutung, denn die Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses folge bereits aus den unstreitig vom Kläger verfaßten schriftlichen Berichten an das MfS.
Nachdem das Arbeitsgericht die Klage wegen Säumnis des Klägers im Termin zur Fortsetzung der mündlichen Verhandlung vom 10. Januar 1995 durch Versäumnisurteil abgewiesen hatte, hat es nach Einspruch des Klägers und Beweisaufnahme unter anderem durch Vernehmung des ehemaligen MfS-Führungsoffiziers als Zeugen das Versäumnisurteil aufrechterhalten. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung des Klägers das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und nach teilweiser Klagrücknahme festgestellt, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung des beklagten Landes vom 6. Juli 1993 nicht mit Ablauf des 30. Septembers 1993 aufgelöst worden sei. Mit der zugelassenen Revision begehrt der Beklagte die Zurückweisung der Berufung des Klägers.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist begründet.
A. Das Landesarbeitsgericht hat im wesentlichen ausgeführt, die Kündigung vom 6. Juli 1993 sei nicht nach Abs. 4 Ziff. 1 EV gerechtfertigt und habe deshalb das Arbeitsverhältnis nicht zum 30. September 1993 aufgelöst. Eine Kündigung nach Abs. 4 Ziff. 1 EV sei zwar auch dann gerechtfertigt, wenn die Voraussetzungen einer außerordentlichen Kündigung wegen MfS-Tätigkeit nach Nr. 1 Abs. 5 Ziff. 2 EV vorlägen, doch seien die Voraussetzungen dieses Kündigungstatbestandes im Falle des Klägers nicht gegeben. Der Kläger sei im Sinne von Abs. 5 Ziff. 2 EV für das MfS tätig gewesen. Er habe bewußt und zielgerichtet für das MfS gearbeitet und zumindest 14 Berichte auf Anforderung seines Führungsoffiziers erstellt. Zudem habe er zwei Geldprämien in Höhe von je 50,00 Mark erhalten. Der Kläger sei in hohem Maße durch seine Tätigkeit für das MfS verstrickt gewesen. Er habe in konspirativer Weise Personen ohne deren Kenntnis überwacht und die Ergebnisse an das MfS weitergeleitet. Durch seine Mitarbeit für das MfS trete eine Belastung des Erscheinungsbildes der öffentlichen Verwaltung des Beklagten ein, doch liege noch keine Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung im Sinne von Abs. 5 Ziff. 2 EV vor. Der Kläger habe nicht in irgendeiner völlig aus dem Sicherheitsbereich des Staatsapparates herausgelösten Position gestanden, sondern habe als Mitglied der Volkspolizei selbst dem Sicherheitsbereich angehört, dem Überwachungs-, zumindest aber Kontrollfunktionen zugekommen seien. Besonders sei zugunsten des Klägers zu berücksichtigen, daß er seine MfS-Tätigkeit nicht verheimlicht, sondern mit seiner Erklärung vom 24. Januar 1991 offenbart habe. Des weiteren sei zugunsten des Klägers zu berücksichtigen, daß er nach der Wende seinen Dienst in der Polizei des Beklagten ordnungsgemäß und unbeanstandet versehen habe.
B. Die Einzelfallprüfung des angefochtenen Berufungsurteils weist Rechtsfehler auf, die eine Aufhebung des angefochtenen Urteils erfordern. Eine abschließende Beurteilung der Wirksamkeit der angefochtenen Kündigung ist dem Senat nicht möglich, weil es hierzu weiterer tatsächlicher Feststellungen bedarf.
I. Zu Recht haben die Vorinstanzen festgestellt, daß der Kläger im Sinne von Abs. 5 Ziff. 2 EV für das Ministerium für Staatssicherheit tätig war. Aufgrund seiner im Jahre 1982 abgegebenen Verpflichtungserklärung lieferte er dem Ministerium für Staatssicherheit unter dem Decknamen „St.” zumindest 14 schriftliche Berichte.
II. Die außerordentliche Kündigung nach Abs. 5 Ziff. 2 EV setzt weiter voraus, daß wegen der Tätigkeit für das MfS ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheint. Ob dies der Fall ist, muß in einer Einzelfallprüfung festgestellt werden. Abs. 5 Ziff. 2 EV ist keine „Mußbestimmung”. Nicht jedem, der für das MfS tätig war, ist zu kündigen. Das individuelle Maß der Verstrickung bestimmt über die außerordentliche Auflösbarkeit des Arbeitsverhältnisses. Je größer das Maß der Verstrickung, desto unwahrscheinlicher ist die Annahme, dieser Beschäftigte sei als Angehöriger des öffentlichen Dienstes der Bevölkerung noch zumutbar (vgl. BAGE 70, 309, 320 = AP Nr. 4 zu Einigungsvertrag Anlage I Kap. XIX, zu B II 1 c der Gründe). Beim inoffiziellen Mitarbeiter wird sich der Grad der persönlichen Verstrickung vor allem aus Art, Dauer und Intensität der Tätigkeit sowie aus Zeit und Grund der Aufnahme und der Beendigung der Tätigkeit für das MfS ergeben. Maßgebend ist, ob das Vertrauen der Bürger in die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung bei Bekanntwerden der Tätigkeit für das MfS in einer Weise beeinträchtigt würde, die das Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar macht.
Ebenfalls bei der Prüfung der Zumutbarkeit zu beachten ist die Art der Tätigkeit, die der Arbeitnehmer in dem in Frage stehenden Arbeitsverhältnis ausübt. Ob das Vertrauen in die Verwaltung durch die Weiterbeschäftigung eines Arbeitnehmers erschüttert wird, hängt nicht nur von der Verstrickung des Arbeitnehmers mit dem MfS ab, sondern auch davon, welche Wirkungsmöglichkeiten und Befugnisse der Arbeitnehmer in seinem jetzigen Arbeitsverhältnis hat (BVerfG Urteil vom 8. Juli 1997 – 1 BvR 1934/93 – BVerfGE 96, 189, 200 f. = AP Nr. 67 zu Einigungsvertrag Anlage I Kap. XIX, zu C I 2 b der Gründe). Die Beschäftigung eines belasteten Arbeitnehmers mit rein vollziehender Sachbearbeitertätigkeit oder handwerklicher Tätigkeit wird das Vertrauen in die Verwaltung weniger beeinträchtigen als die Ausübung von Entscheidungs- und Schlüsselfunktionen durch einen ebenso belasteten Arbeitnehmer.
Der Frage, ob die frühere Tätigkeit ein Festhalten am jetzigen Arbeitsverhältnis noch zu rechtfertigen vermag, wohnt auch ein zeitliches Element inne. Der Arbeitgeber kann die Kündigung nicht zeitlich unbegrenzt aussprechen. Auch außerhalb des Anwendungsbereichs von § 626 Abs. 2 BGB kann der wichtige Grund nach Abs. 5 Ziff. 2 EV durch bloßen Zeitablauf entfallen, ohne daß die weitergehenden Voraussetzungen der allgemeinen Verwirkung, wie das Vorliegen eines Umstandsmoments, erfüllt sein müßten (vgl. näher Senatsurteil vom 28. April 1994 – 8 AZR 157/93 – BAGE 76, 334, 340 = AP Nr. 13 zu Art. 20 Einigungsvertrag, zu II 3 a bb der Gründe, m.w.N.). Der Kündigungsberechtigte darf einen Kündigungsgrund unabhängig von § 626 Abs. 2 BGB nicht beliebig lange zurückhalten, um davon bei ihm gut dünkender Gelegenheit Gebrauch zu machen.
Eine feste Zeitgrenze, ab wann die Unzumutbarkeit des Festhaltens am Arbeitsverhältnis nicht mehr gegeben ist, besteht nicht. Vielmehr bedarf es einer Abwägung des Zeitablaufs mit dem Gewicht der Kündigungsgründe. Maßgebend sind die konkreten Umstände des Einzelfalles, denn das Erscheinungsbild der Verwaltung wird mitgeprägt von der Zeitdauer, die der frühere MfS-Mitarbeiter nach der Wiedervereinigung unbeanstandet tätig war (Senatsurteil vom 28. April 1994, aaO).
III. Die vom Landesarbeitsgericht durchgeführte Einzelfallprüfung ist in Teilen rechtsfehlerhaft.
1. Das Landesarbeitsgericht hat zugunsten des Klägers berücksichtigt, daß er ohnehin als Mitglied der Deutschen Volkspolizei Kontroll- und Überwachungsfunktionen ausgeübt habe. Damit hat das Landesarbeitsgericht den Tatbestand des Abs. 5 Ziff. 2 EV in unzulässiger Weise eingeengt. Würde diese Argumentation des Landesarbeitsgerichts zutreffen, wäre es den neu gebildeten Trägern der öffentlichen Verwaltung nicht möglich, ehemaligen Mitgliedern der Deutschen Volkspolizei wegen ihrer Tätigkeit für das MfS gleichermaßen zu kündigen wie anderen Angehörigen des ehemaligen öffentlichen Dienstes der DDR. Diese Auffassung ist unzutreffend. Vielmehr ist nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts entscheidend auf die heutige Tätigkeit des Bediensteten abzustellen, die gerade im Polizeivollzugsdienst die Erwartung einer besonderen persönlichen Integrität der Bediensteten erfordert.
2. Das Landesarbeitsgericht hat des weiteren entscheidend darauf abgestellt, daß der Kläger nach der ihm am 6. Mai 1993 erteilten dienstlichen Beurteilung seine dienstlichen Obliegenheiten seit der Wende unbeanstandet erledigt habe. In diesem Zusammenhang verweist das Landesarbeitsgericht auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die sich mit der Bedeutung der Tätigkeit eines politisch vorbelasteten Bediensteten in der demokratischen Verwaltung auseinandersetzt. Damit verwendet das Landesarbeitsgericht eine zu Abs. 4 Ziff. 1 EV entwickelte Würdigung im Rahmen des besonderen Kündigungstatbestandes nach Abs. 5 Ziff. 2 EV. Dabei läßt das Landesarbeitsgericht unberücksichtigt, daß der Kündigungstatbestand des Absatzes 5 Ziff. 2 EV nach dem Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers unbefristet gelten soll, während für die Kündigung mangels Eignung eine befristete Geltungsdauer vorgesehen wurde. Somit geht der Einigungsvertrag von einem erhöhten Gewicht des Kündigungsgrundes „MfS-Tätigkeit” aus, das nicht durch unbeanstandete dienstliche Tätigkeiten entkräftet werden kann. Im übrigen stellt Abs. 5 Ziff. 2 EV mit dem Wort „deshalb” darauf ab, ob die Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung gerade aus der Tätigkeit für das MfS folgt. Eine allgemeine Interessenabwägung hat nicht stattzufinden.
3. Andererseits hat das Landesarbeitsgericht mit Recht darauf verwiesen, daß der Kläger mit seiner persönlichen Erklärung vom 24. Januar 1991 in ungewöhnlicher Deutlichkeit seine frühere Tätigkeit für das MfS offenbarte. Damit kommt der Frage entscheidendes Gewicht zu, ob nicht der Beklagte durch langes Zuwarten die grundsätzlich gegebene Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung entkräftete. Jedoch bedeutet die Rechtsprechung des Senats, der Arbeitgeber könne eine Kündigung nach Abs. 5 Ziff. 2 EV nicht zeitlich unbegrenzt aussprechen, nicht, daß der Arbeitgeber bei Kenntnis neuer Umstände den Kündigungssachverhalt neu bewerten und sich erst dann zur Kündigung entschließen kann.
a) Im Anwendungsbereich des Sonderkündigungsrechts nach Abs. 5 Ziff. 2 EV ist der Arbeitgeber gehalten, zu einer möglichst raschen Entscheidung über die Fortdauer des Arbeitsverhältnisses mit einem durch seine frühere MfS-Tätigkeit belasteten Arbeitnehmer zu kommen. Denn das Erscheinungsbild der Verwaltung wird mitgeprägt von der Zeitdauer, die der Arbeitnehmer nach der Wiedervereinigung unbeanstandet tätig war (Senatsurteil vom 28. April 1994 – 8 AZR 157/93 – BAGE 76, 334, 341 = AP Nr. 13 zu Art. 20 Einigungsvertrag, zu II 3 a bb der Gründe). Deshalb darf der öffentliche Arbeitgeber nicht generell vor Ausspruch einer Kündigung die Auskunft der Gauck-Behörde abwarten, sondern muß im Regelfall – bei vollständiger und wahrheitsgemäßer Auskunft anhand des Ergebnisses der Befragung des Mitarbeiters entscheiden (Senatsurteil vom 26. Juni 1997 – 8 AZR 449/96 – n.v., zu II 4 b der Gründe). Allerdings ist der öffentliche Arbeitgeber nicht gehindert, auch zu einem späteren Zeitpunkt und gerade im Zusammenhang mit einer Gauck-Auskunft außerordentlich zu kündigen, wenn die persönliche Belastung des Arbeitnehmers durch neu bekannt gewordene Umstände in einem anderen Licht erscheint (vgl. Senatsurteil vom 26. Juni 1997, aaO, zu II 4 c der Gründe; Senatsurteil vom 11. September 1997 – 8 AZR 14/96 – n.v., zu II 2 der Gründe).
Nimmt der öffentliche Arbeitgeber die durch Fragebogen oder auf sonstige Weise erlangte Kenntnis von der MfS-Tätigkeit eines Arbeitnehmers nicht zum Anlaß für eine Kündigung, kann er später keine Kündigung gemäß Abs. 5 Ziff. 2 EV auf die ihm schon bekannten Umstände stützen. Er geht also das Risiko ein, daß er nach Erteilung der Gauck-Auskunft nicht mehr kündigen kann, wenn durch diese nur ein bereits bekannter Sachverhalt bestätigt wird. Bringt jedoch die Auskunft des Bundesbeauftragten neue Umstände zutage, die geeignet sind, die Einschätzung des belasteten Arbeitnehmers zu ändern, kann über die Ausübung des Kündigungsrechts neu entschieden werden. Arbeitnehmer, die nicht bereit waren, ihre Verstrickung mit der Staatssicherheit überhaupt oder dem vollen Umfang nach zu offenbaren, sind nicht allein durch Zeitablauf vor einer möglichen Kündigung geschützt. Die Zumutbarkeit ihrer Weiterbeschäftigung kann auch nicht generell daraus hergeleitet werden, daß der Arbeitgeber eigene Ermittlungen nicht oder zu langsam betrieben hat.
b) Da der Beklagte laut Schriftsatz vom 23. Februar 1995 in Kenntnis der vom Bundesbeauftragten verwalteten MfS-Akten des Klägers die Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung allein aus den schriftlichen Berichten des Klägers für das MfS und nicht den evtl. lediglich vom MfS-Führungsoffizier abgeschöpften Informationen herleitet, kommt aufgrund des schriftsätzlichen Vortrags ausschließlich der aus dem Jahre 1988 stammende Bericht des Klägers als Beurteilungsgrundlage der Zumutbarkeit in Betracht. Die hierzu abgegebenen Erklärungen beider Parteien sind vom Berufungsgericht nicht gewürdigt worden. Insbesondere hat das Landesarbeitsgericht unberücksichtigt gelassen, daß dieser Bericht sowohl nach der Aussage des als Zeuge vernommenen MfS-Führungsoffiziers als auch nach den Behauptungen des Beklagten einen „OPK-Vorgang” ausgelöst hat, also nachteilige Folgen für einen anderen DDR-Bürger gehabt haben kann. Andererseits ergibt sich sowohl aus dem Vortrag des Klägers als auch aus der Zeugenaussage des MfS-Führungsoffiziers, daß die in dem Bericht enthaltenen Informationen dem MfS bereits aus anderen Quellen bekannt waren.
Das Landesarbeitsgericht wird aufgrund anderweiter Verhandlung zu beurteilen haben, ob die aus diesem Bericht folgende Belastung des Klägers deutlich über das Maß seines eigenen Bekenntnisses aus dem Jahre 1991 hinausgeht. In diesem Zusammenhang wird das Landesarbeitsgericht auch die Bedeutung der beiden Zuwendungen in Höhe von jeweils 50,00 Mark zu würdigen haben. Insofern hatte der Kläger in seiner Erklärung vom 24. Januar 1991 jede Annahme von Vorteilen bestritten.
Unterschriften
Ascheid, Müller-Glöge, Mikosch, Brückmann, Morsch
Fundstellen