Entscheidungsstichwort (Thema)
DDR-Rentnerarbeitsverhältnisse
Leitsatz (amtlich)
Die Arbeitsverhältnisse der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes der ehemaligen DDR, die vor dem 3. Oktober 1990 das Rentenalter erreicht hatten, wurden weder gemäß Art. 20 Abs. 1 Einigungsvertrag in Verbindung mit Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 2 Satz 7 noch durch § 60 BAT-O in unmittelbarer oder entsprechender Anwendung aufgelöst.
Normenkette
Einigungsvertrag Art. 20 Abs. 1 in Verbindung mit Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschn. III Nr. 1 Abs. 2 S. 7 und Abs. 3; BGB § 625; SGB VI § 41; BAT-O §§ 60, 74
Verfahrensgang
LAG Berlin (Urteil vom 02.03.1992; Aktenzeichen 12 Sa 77/91) |
ArbG Berlin (Urteil vom 13.09.1991; Aktenzeichen 83 Ca 4412/91) |
Tenor
- Die Revision des beklagten Landes gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 2. März 1992 – 12 Sa 77/91 – wird zurückgewiesen.
- Das beklagte Land hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob das Arbeitsverhältnis der Klägerin gemäß Art. 20 Abs. 1 in Verbindung mit Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 2 Satz 7 Einigungsvertrag (im folgenden Nr. 1 Abs. 2 Satz 7 EV) beendet und gegebenenfalls gemäß § 625 BGB auf unbestimmte Zeit verlängert worden ist.
Die am 8. März 1928 geborene Klägerin ist seit dem 1. März 1978 als Zahnärztin in der Poliklinik … beschäftigt, die dem heutigen Bezirksamt L… untersteht.
Mit Schreiben vom 26. Februar 1991 und vom 11. März 1991 teilte der amtierende Ärztliche Direktor der Poliklinik der Klägerin mit, daß ihr Arbeitsverhältnis gemäß Einigungsvertrag wegen Erreichens des Rentenalters mit Wirkung zum 15. März 1991 ende.
Mit der Klage macht die Klägerin den Fortbestand ihres Arbeitsverhältnisses geltend.
Die Klägerin hat beantragt
festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis entgegen den Schreiben des beklagten Landes vom 26. Februar 1991 und vom 11. März 1991 über den 15. März 1991 hinaus fortbesteht.
Das beklagte Land hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das beklagte Land hat vorgetragen, das Arbeitsverhältnis der Klägerin sei gemäß Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 2 Satz 7 in Verbindung mit Abs. 3 wegen Erreichens des Rentenalters ohne Ausspruch einer Kündigung kraft Gesetzes beendet worden. Hilfsweise hat es geltend gemacht, mit dem Inkrafttreten des Bundes-Angestelltentarifvertrages-Ost (BAT-O) am 1. Januar 1991 sei gemäß § 60 BAT-O das Arbeitsverhältnis der Klägerin aufgelöst worden. § 625 BGB finde keine Anwendung. Zudem seien die Schreiben des Ärztlichen Direktors der Poliklinik als rechtzeitiger Widerspruch anzusehen.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des beklagten Landes zurückgewiesen. Mit der zugelassenen Revision begehrt das beklagte Land Klageabweisung.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
Das Berufungsgericht hat zu Recht festgestellt, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien fortbesteht.
I. Das Arbeitsverhältnis ist nicht gemäß Art. 20 Einigungsvertrag in Verbindung mit Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 2 Satz 7 aufgelöst worden.
1. Nach Nr. 1 Abs. 2 Satz 7 EV endet das Arbeitsverhältnis unabhängig von Satz 1 und Satz 5 des Absatzes 2 “mit Erreichen des Rentenalters”. Diese unmittelbar für den Bundesbereich maßgebliche Bestimmung gilt gemäß Abs. 3 entsprechend für die Arbeitnehmer bei Einrichtungen, die Aufgaben der Länder, des Landes Berlin für den Teil, in dem das Grundgesetz bisher nicht galt, oder Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91b des Grundgesetzes wahrnehmen. Durch diese Bestimmung ist das Arbeitsverhältnis der Klägerin nicht ohne Ausspruch einer Kündigung kraft Gesetzes wegen Erreichens des Rentenalters beendet worden, denn die Klägerin hat die Voraussetzungen dieser Norm nicht erfüllt.
Der Wortlaut der Norm als äußerste Grenze ihrer Auslegung sieht lediglich vor, daß sowohl die “aktiven” Arbeitsverhältnisse der Beschäftigten in überführten Einrichtungen als auch die ruhenden Arbeitsverhältnisse während der “Warteschleife” mit Erreichen des Rentenalters enden. Dieser Tatbestand konnte sich folglich nur ab dem Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Beitritts (= 3. Oktober 1990) verwirklichen. Das “Erreichen” des Rentenalters bezeichnet in der Gegenwartsform einen Vorgang, der den des “Erreichthabens” nicht einschließt. Die Klägerin hatte das nach DDR-Recht zu beurteilende Rentenalter (60 Jahre) bereits im Jahre 1988 erreicht. Sie konnte es nach dem 2. Oktober 1990 nicht mehr erreichen.
2. Das Arbeitsverhältnis ist nicht aufgrund analoger Anwendung von Nr. 1 Abs. 2 Satz 7 EV beendet worden. Die Voraussetzungen einer Analogie sind nicht gegeben.
Die Analogie als gesetzesimmanente Rechtsfortbildung setzt das Bestehen einer Gesetzeslücke voraus. Von einer derartigen Gesetzeslücke kann nur dann ausgegangen werden, wenn das Gesetz für einen bestimmten Bereich eine einigermaßen vollständige Regelung anstrebt. Ein einzelnes Gesetz kann immer nur insoweit “lückenhaft” sein, als es eine Regel vermissen läßt, die eine Frage betrifft, die nicht dem “rechtsfreien Raum” zu überlassen ist (Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., S. 371 f.). Diese Frage ist vom Standpunkt des Gesetzes selbst zu beurteilen, so daß nur eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes eine Analogie zu rechtfertigen vermag. Rechtspolitische Fehler des Gesetzes können nicht durch Analogie beseitigt werden.
Eine derartige Gesetzeslücke ist nicht feststellbar. Der Einigungsvertrag hat die Auflösung von Arbeitsverhältnissen wegen “Erreichen des Rentenalters” nur für einen Teil aller früheren Beschäftigungsverhältnisse in der DDR eingeführt. Das Arbeitsrecht der DDR kannte keine automatische Beendigung des Arbeitsverhältnisses bei Erreichen des Rentenalters. Vielfach mußten Rentner die Erwerbstätigkeit fortsetzen, um ihre unzureichende Versorgung aufzubessern. Ein soziales Phänomen, das in der zeitgenössischen DDR-Literatur als Entfaltung der Persönlichkeit bis ins hohe Alter umschrieben wurde (Arbeitsrecht von A bis Z, Lexikon von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Frithjof Kunz, Berlin 1987, Stichwort “Rentner”). Für die in früheren volkseigenen Betrieben, Kombinaten oder anderen Bereichen heutiger Privatwirtschaft beschäftigten Werktätigen sieht der Einigungsvertrag keine Beendigung kraft Gesetzes wegen Erreichens des Rentenalters vor. Gleiches gilt für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, deren Beschäftigungsdienststelle keiner Entscheidung nach Art. 13 EV unterlag. Damit stellt sich Nr. 1 Abs. 2 Satz 7 EV als Sonderregelung dar, denn der weit überwiegende Teil aller Beschäftigungsverhältnisse wird nicht erfaßt. Insofern eine Gesetzeslücke festzustellen, ist nicht begründbar.
Darüber hinaus steht einer analogen Anwendung von Nr. 1 Abs. 2 Satz 7 EV entgegen, daß durch sie eine rechtsstaats- und damit verfassungswidrige Rechtsfolge eintreten würde. Im Falle einer begründeten Analogie lautete die Rechtsfolge “Beendigung des Arbeitsverhältnisses bei Erreichen des Rentenalters”. Dies bedeutete für die betroffenen Beschäftigten, daß ihr Arbeitsverhältnis bereits vor dem 3. Oktober 1990 kraft Gesetzes geendet hätte. Damit käme der analogen Anwendung von Nr. 1 Abs. 2 Satz 7 EV “echte” Rückwirkung zu. Diese Rückwirkung wäre mit dem Rechtsstaatsgebot unvereinbar. Soweit in der Rechtsprechung der Instanzgerichte (vgl. LAG Berlin Urteil vom 19. Dezember 1991 – 7 Sa 53/91 – ZTR 1992, 167) eine analoge Anwendung von Nr. 1 Abs. 2 Satz 7 EV bejaht wurde, ist deshalb nicht die Rechtsfolge dieser Bestimmung auf den jeweiligen Fall übertragen, sondern ein neuer Rechtssatz aufgestellt worden. Im Ergebnis würde Nr. 1 Abs. 2 EV um einen Satz 8 des Inhalts erweitert, daß das Arbeitsverhältnis mit dem Wirksamwerden des Beitritts (oder einem genau zu bestimmenden Zeitpunkt) ende, wenn das Rentenalter vor dem 3. Oktober 1990 erreicht wurde. Diese Regelung gibt es im Einigungsvertrag weder in ihrem Tatbestands- noch in ihrem Rechtsfolgeteil. Sie kann deshalb auch nicht als gesetzesimmanente Rechtsfortbildung begründet werden. Es würde sich vielmehr um gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung handeln. Fragen der Zweckmäßigkeit, insbesondere der Praktikabilität, vermögen diese gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung nicht zu rechtfertigen. In Anbetracht des personell überbesetzten öffentlichen Dienstes der DDR hätte es zwar der Zweckmäßigkeit entsprochen, die Arbeitsverhältnisse der Werktätigen im Rentenalter ohne Ausspruch einer Kündigung kraft Gesetzes zu beenden. Jedoch gab es ein entsprechendes Rechtsprinzip weder in der Rechtsordnung der DDR noch in der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland. Vielmehr hat der Gesetzgeber der Bundesrepublik nach dem Wirksamwerden des Beitritts durch das Rentenreformgesetz 1992 eine gegenteilige Position verdeutlicht und in § 41 SGB VI die Voraussetzungen einer Flexibilisierung und Verlängerung der Lebensarbeitszeit geschaffen. Eine Legitimation der Rechtsprechung zu einer gegenläufigen, in den Schutzbereich des Art. 12 GG eingreifenden gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung ist deshalb nicht zu erkennen.
II. Das Arbeitsverhältnis der Klägerin hat nicht gemäß § 60 BAT-O am 1. Januar 1991 geendet.
1. § 60 Abs. 1 BAT-O lautet:
“Das Arbeitsverhältnis endet, ohne daß es einer Kündigung bedarf, mit Ablauf des Monats, in dem der Angestellte das fünfundsechzigste Lebensjahr vollendet hat.”
Die Voraussetzungen dieser Tarifbestimmung erfüllt die am 8. März 1928 geborene Klägerin noch nicht, so daß die mit dem Inkrafttreten von § 41 SGB VI am 1. Januar 1992 zweifelhaft gewordene Wirksamkeit dieser Tarifnorm dahingestellt bleiben kann.
2. In einer Übergangsvorschrift zu § 60 Abs. 1 BAT-O heißt es:
“Solange eine Regelaltersgrenze (Rentenalter) unter 65 Jahre gilt, ist diese maßgebend.”
Die Voraussetzungen dieses Satzes erfüllte die Klägerin bereits im Jahre 1988. Allerdings trat der BAT-O gemäß § 74 erst am 1. Januar 1991 in Kraft. Weder aus dem Wortlaut noch seiner Entstehungsgeschichte kann gefolgert werden, daß gemäß § 60 einschließlich der hierzu vereinbarten Übergangsvorschrift Arbeitsverhältnisse der Tarifgebundenen zeitgleich mit dem Inkrafttreten des BAT-O aufgelöst werden sollten. Die sprachliche Fassung des § 60 BAT-O begründet vielmehr die Auslegung, daß nur die Arbeitsverhältnisse solcher Angestellten beendet werden sollen, die während der Geltungsdauer des Tarifvertrages das Rentenalter erreichen bzw. das 65. Lebensjahr vollenden. Zudem schließt der zeitliche Geltungsbereich des BAT-O an die gesetzliche Regelung des Einigungsvertrages in Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 1 an. Bis zum 31. Dezember 1990 waren allein die alten Arbeitsbedingungen und der Einigungsvertrag maßgebend. Erst ab 1. Januar 1991 sollte das neue Tarifrecht gelten.
Ob § 60 BAT-O das Arbeitsverhältnis der Parteien mit Ablauf des Monats Februar 1993 auflösen wird, ist für den vorliegenden Rechtsstreit ohne Belang. Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob die Parteien am 1. Januar 1991 im Sinne von § 3 TVG tarifgebunden waren.
III. Im Ergebnis ist das Arbeitsverhältnis der Klägerin weder gemäß Nr. 1 Abs. 2 Satz 7 EV noch durch § 60 BAT-O in unmittelbarer oder entsprechender Anwendung aufgelöst worden. Die Annahme, die Arbeitsverhältnisse der Angehörigen des öffentlichen Dienstes, die vor dem 3. Oktober 1990 das Rentenalter erreicht hatten, seien mit dem Wirksamwerden des Beitritts aufgelöst worden, ist rechtlich nicht begründbar. Die Vorinstanzen haben der Feststellungsklage zu Recht stattgegeben.
IV. Das beklagte Land hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten der erfolglosen Revision zu tragen.
Unterschriften
Michels-Holl, Dr. Ascheid, Dr. Müller-Glöge, Femppel, R. Schmidt
Fundstellen
Haufe-Index 846778 |
BAGE, 355 |
BB 1992, 2360 |
NZA 1993, 409 |
AuA 1993, 61 |