Entscheidungsstichwort (Thema)
Jahressonderzahlung – betriebsbedingte Kündigung. Sonderzuwendung, Auslegung
Leitsatz (amtlich)
Bestimmt ein Tarifvertrag, daß ein Anspruch auf eine anteilige Jahressonderzahlung besteht, wenn das Arbeitsverhältnis auf Grund betriebsbedingter Kündigung in der zweiten Kalenderjahreshälfte endet, kann diese Regelung dahingehend ausgelegt werden, daß ein Anspruch auch dann besteht, wenn die betriebsbedingte Kündigung erst im Folgejahr zu einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses führt.
Orientierungssatz
1. Einen anteiligen Anspruch auf eine Jahressonderzahlung erhalten nach § 2 Abs. 5 des Tarifvertrags über Jahressonderzahlungen der Textilindustrie Baden-Württemberg vom 26. Mai 1999 auch solche Arbeitnehmer, die betriebsbedingt mit einer Frist gekündigt werden, die über den 31. Dezember des Anspruchskalenderjahres hinausreicht.
2. Die Formulierung: „Entsprechendes gilt … für Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis auf Grund betriebsbedingter Kündigung in der zweiten Kalenderjahreshälfte endet …” bedeutet, daß das Arbeitsverhältnis nicht in der ersten Kalenderjahreshälfte geendet haben, also frühestens in der zweiten Kalenderjahreshälfte enden darf.
Normenkette
BGB § 611; Tarifvertrag über Jahressonderzahlungen der Textilindustrie Baden-Württemberg i.d.F vom 26. Mai 1999 § 2 Abs. 2, 5
Verfahrensgang
Tenor
1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 14. März 2001 – 12 Sa 77/00 – wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über eine Jahressonderzahlung.
Die Klägerin war seit dem 16. Juni 1983 als Lagerarbeiterin bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin beschäftigt. Gemäß Ziffer 3 des Arbeitsvertrags vom 16. Juni 1983 richtete sich das Arbeitsverhältnis nach den „Tarifbestimmungen der Textil-Industrie Baden-Württemberg”. Der Tarifvertrag über Jahressonderzahlungen der Textilindustrie Baden-Württemberg in der Fassung vom 26. Mai 1999 (im folgenden: TV) lautet auszugsweise wie folgt:
„§ 2 Voraussetzung und Höhe der Jahressonderzahlung
…
2. Der Anspruch auf die Jahressonderzahlung setzt voraus, daß der Arbeitnehmer am Auszahlungstag in einem ungekündigten oder einem auf mindestens 6 Monate befristeten, jedoch nicht gekündigten Arbeitsverhältnis bzw. der Auszubildende in einem Ausbildungsverhältnis steht und dem Betrieb am 31. Oktober des jeweiligen Kalenderjahres länger als zwei Monate ununterbrochen angehört, soweit nicht in Abs. 5 etwas Abweichendes geregelt ist.
Ein Anspruch auf Jahressonderzahlung kann nur geltend gemacht werden, wenn der Arbeitnehmer oder Auszubildende im Berechnungszeitraum mindestens einen Monat im Betrieb gearbeitet hat.
3. Die Höhe der Jahressonderzahlung ergibt sich aus der nachfolgenden Tabelle.
Die volle Jahressonderzahlung beträgt ab 1998 bei einer Betriebszugehörigkeit von
weniger als 2 Jahren |
85 % |
ab 2 Jahren |
90 % |
ab 4 Jahren |
95 % |
ab 6 Jahren |
100 % |
eines durchschnittlichen Monatsverdienstes.
Stichtag für die Betriebszugehörigkeit ist der 31. Oktober.
4. Die Jahressonderzahlung ist nach dem durchschnittlichen Monatsverdienst bzw. der durchschnittlichen monatlichen Ausbildungsvergütung zu berechnen. Berechnungszeitraum ist die Zeit vom 1. Oktober des Vorjahres bis zum 30. September des laufenden Kalenderjahres. ….
5. Unter der Voraussetzung, daß die Wartezeit gemäß Abs. 2 erfüllt ist, haben im Laufe des Kalenderjahres eintretende Arbeitnehmer und Auszubildende Anspruch auf ein Zwölftel der Jahressonderzahlung für jeden Kalendermonat, in dem das Arbeits- bzw. Ausbildungsverhältnis mindestens 14 Kalendertage bestanden hat. Entsprechendes gilt für anspruchsberechtigte Arbeitnehmer und Auszubildende, deren Arbeits- bzw. Ausbildungsverhältnis ruht, sowie für Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis auf Grund betriebsbedingter Kündigung in der zweiten Kalenderjahreshälfte endet oder die im Laufe des Kalenderjahres auf Grund eigener Kündigung wegen Eintritts in den Ruhestand aus dem Arbeitsverhältnis ausscheiden.
In den beiden letztgenannten Fällen gilt als Berechnungszeitraum die Zeit vom 1. Oktober des Vorjahres bis zum Ende des Beschäftigungsverhältnisses.
6. Die Jahressonderzahlung muß bis spätestens Ende November den Arbeitnehmern zur Verfügung stehen.
Auszahlungstag ist der Tag, an dem die Jahressonderzahlung bar ausgezahlt wird oder dem Konto gutgeschrieben ist.
…
§ 3 Anrechenbarkeit und Rückzahlung der Sonderzahlung
…
3. Die Jahressonderzahlung ist, soweit sie DM 100,00 übersteigt, zurückzuzahlen, wenn das Arbeits- bzw. Ausbildungsverhältnis bis zum 31. März des folgenden Kalenderjahres infolge fristloser Entlassung oder Arbeitsvertragsbruchs endet. Gleiches gilt, wenn das Arbeits- bzw. Ausbildungsverhältnis vor dem 31. Dezember des laufenden Kalenderjahres durch den Anspruchsberechtigten gekündigt wird.
…”
Am 8. Oktober 1999 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis aus betriebsbedingten Gründen fristgemäß zum 30. April 2000.
Mit ihrer am 26. Januar 2000 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage macht die Klägerin eine Jahressonderzahlung für das Jahr 1999 in rechnerisch unstreitiger Höhe geltend. Sie meint, der Anspruch sei begründet, obwohl das Arbeitsverhältnis auf Grund der betriebsbedingten Kündigung nicht im Jahre 1999, sondern erst im April 2000 geendet habe.
Die Klägerin hat zuletzt beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie für das Jahr 1999 eine Jahressonderzahlung in Höhe von DM 2.847,00 brutto nebst 4 % Zinsen hieraus seit dem 14. Dezember 1999 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie meint, der Wortlaut des § 2 Abs. 5 TV sei eindeutig. Das Arbeitsverhältnis der Klägerin habe nicht in der zweiten Kalenderjahreshälfte geendet. Mit § 2 TV sei eine detaillierte und erkennbar abschließende Regelung der Jahressonderzahlung getroffen worden. Es liege keine planwidrige Regelungslücke vor. Eine ergänzende Auslegung des TV verstoße gegen Art. 9 Abs. 3 GG. Zweck der Bevorzugung betriebsbedingt gekündigter und noch in der zweiten Jahreshälfte ausscheidender Arbeitnehmer sei es, diese wegen der Arbeitslosigkeit kurz vor bzw. nach Weihnachten finanziell zu unterstützen. Erst nach Ablauf des Kalenderjahres ausscheidende Arbeitnehmer seien bewußt in die Regelung nicht aufgenommen worden, da die Arbeitgeber wegen der langen Kündigungsfristen trotz fehlender Beschäftigungsmöglichkeiten bei betriebsbedingten Kündigungen ohnehin bereits finanziell stark belastet seien. Diese Differenzierung sei sachlich gerechtfertigt.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter, während die Klägerin die Zurückweisung der Revision beantragt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Die Vorinstanzen haben die Beklagte zu Recht verurteilt, an die Klägerin die Sonderzahlung für das Jahr 1999 zu zahlen.
I. Das Landesarbeitsgericht hat seine Entscheidung im wesentlichen damit begründet, daß § 2 Abs. 5 TV eine unbewußte Lücke enthalte, soweit nach dessen Wortlaut Arbeitnehmer bei der Gewährung einer Sonderzahlung nicht erfaßt seien, die nach einer betriebsbedingten Kündigung erst im Folgejahr ausschieden. Eine entsprechende Anwendung des § 2 Abs. 5 TV auch auf diesen Personenkreis verstoße nicht gegen Art. 9 Abs. 3 GG. Sinn der Regelung sei es nicht, einen Arbeitnehmer mit kurzer Kündigungsfrist und geringer finanzieller Absicherung zu bevorzugen. § 2 Abs. 5 TV differenziere nicht nach der Dauer der Kündigungsfrist, sondern nach dem Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Kündigung. Die nicht sachgerechte Lücke in § 2 Abs. 5 TV könne daher nur so geschlossen werden, daß auch diejenigen Arbeitnehmer die Zahlung erhielten, die infolge betriebsbedingter Kündigung in der zweiten Jahreshälfte „oder wegen der Dauer der Kündigungsfrist danach ausscheiden”. Es sei ausgeschlossen, daß die Lücke von den Tarifvertragsparteien durch andere, ebenso plausible Gestaltungsvarianten sachgerecht geschlossen werden könnte.
II. Der Senat folgt dem Landesarbeitsgericht im Ergebnis, nicht jedoch in der Begründung. Die Klägerin hat gemäß Ziffer 3 des Arbeitsvertrags in Verbindung mit § 2 Abs. 5 TV einen Anspruch auf Zahlung der Jahressonderzahlung für das Jahr 1999. Dies folgt aus der Auslegung des § 2 Abs. 5 TV.
1. Gemäß Ziffer 3 des Arbeitsvertrags vom 16. Juni 1983 richtet sich das Arbeitsverhältnis nach den „Tarifbestimmungen der Textil-Industrie Baden-Württemberg”. Mit dieser Vereinbarung wurden auch die Vorschriften des Tarifvertrags über Jahressonderzahlungen (TV) wirksam in Bezug genommen.
2. Der Anspruch der Klägerin auf eine Jahressonderzahlung für das Jahr 1999 folgt aus § 2 Abs. 2 TV in Verbindung mit § 2 Abs. 5 3. Alternative TV.
a) Nach § 2 Abs. 2 Unterabsatz 1 TV ist Voraussetzung für einen Anspruch auf Jahressonderzahlung, daß der Arbeitnehmer am Auszahlungstag in einem ungekündigten Arbeitsverhältnis steht und dem Betrieb am 31. Oktober des jeweiligen Kalenderjahres länger als zwei Monate ununterbrochen angehört, soweit nicht in Absatz 5 etwas Abweichendes geregelt ist. Mit dem zweiten Unterabsatz werden die Anspruchsvoraussetzungen dahingehend ergänzt, daß der Arbeitnehmer im Berechnungszeitraum mindestens einen Monat im Betrieb gearbeitet haben muß.
Die Klägerin erfüllt für das Jahr 1999 sowohl die zweimonatige Wartefrist als auch die Voraussetzung einer Mindestarbeitsleistung von einem Monat. Infolge der im Oktober 1999 ausgesprochenen betriebsbedingten Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses stand sie jedoch zum Zeitpunkt der Auszahlung, die gemäß § 2 Abs. 6 TV spätestens bis Ende November des Kalenderjahres erfolgen muß, nicht in einem ungekündigten Arbeitsverhältnis.
b) Die Klägerin wird jedoch vom Ausnahmetatbestand des § 2 Abs. 5 3. Alternative TV erfaßt. Nach dieser Regelung haben „Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis auf Grund betriebsbedingter Kündigung in der zweiten Kalenderjahreshälfte endet” Anspruch auf ein Zwölftel der Jahressonderzahlung für jeden Kalendermonat, in dem das Arbeitsverhältnis mindestens 14 Kalendertage bestanden hat. Hiervon werden auch die betriebsbedingt gekündigten Arbeitnehmer erfaßt, die in der zweiten Kalenderjahreshälfte bis zum 31. Dezember Arbeitsleistungen im geforderten Umfang erbracht haben und wegen der laufenden Kündigungsfrist erst im Folgejahr ausscheiden. Diese Arbeitnehmer erwerben einen Anspruch auf 12/12 der Jahressonderzahlung. Dies folgt aus einer am Sinn und Zweck des § 2 Abs. 5 TV orientierten Auslegung des Wortlauts der Regelung. Es ist hinreichend deutlich erkennbar, daß nach dem wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien auch diese Arbeitnehmer eine Jahressonderzahlung gemäß § 2 Abs. 5 TV erwerben sollen. Somit liegt weder eine bewußte noch eine durch ergänzende Tarifauslegung zu schließende unbewußte Regelungslücke vor.
aa) Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften (§ 133 BGB). Der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm sind mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen. Verbleiben noch Zweifel, können weitere Kriterien, wie Tarifgeschichte, praktische Tarifübung und Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge berücksichtigt werden. Im Zweifel ist die Tarifauslegung zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt(BAG 20. April 1994 – 10 AZR 276/93 – AP BAT §§ 22, 23 Zulagen Nr. 11 mwN).
bb) Nach dem Wortlaut des § 2 Abs. 5 TV ist zunächst Voraussetzung für den Anspruch auf Jahressonderzahlung, daß das Arbeitsverhältnis nicht vor dem 1. Juli des Kalenderjahres geendet hat und weiterhin, daß das Arbeitsverhältnis in der zweiten Kalenderjahreshälfte mindestens für einen Zeitraum von 14 Kalendertagen bestanden hat. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, erwirbt der betriebsbedingt gekündigte Arbeitnehmer einen Anspruch auf eine anteilige Zuwendung, der je nach dem zeitlichen Bestand des Arbeitsverhältnisses und der weiteren erbrachten Arbeitsleistung in der zweiten Kalenderjahreshälfte zwischen 7/12 und 12/12 der nach § 2 Abs. 3 und Abs. 4 TV zu errechnenden Jahressonderzahlung betragen kann.
cc) Der Wortlaut des § 2 Abs. 5 3. Alternative TV ist darüber hinaus auslegungsbedürftig und auslegungsfähig. Die Formulierung, wonach das Arbeitsverhältnis der betriebsbedingt gekündigten Arbeitnehmer „in” der zweiten Kalenderjahreshälfte endet, ist nicht so zu verstehen, daß das rechtliche Ende tatsächlich innerhalb der zweiten Kalenderjahreshälfte liegen muß, sondern daß es frühestens in der zweiten Kalenderjahreshälfte liegen darf. Der Zweck der Regelung liegt darin, anteilige Ansprüche solcher Arbeitnehmer auszuschließen, deren Arbeitsverhältnis betriebsbedingt vor dem 30. Juni des Kalenderjahres geendet hat. Die Klägerin konnte damit zB für das Jahr 2000 keinen anteiligen Anspruch erwerben, da sie zum 30. April 2000 ausgeschieden ist.
(1) Sinn und Zweck der Ausnahmevorschrift des § 2 Abs. 5 TV sind zunächst aus der Zielsetzung der in § 2 Abs. 2 TV normierten Grundregelung zu ermitteln. Der Zweck einer tariflichen Leistung ergibt sich insbesondere aus den im Tarifvertrag normierten Voraussetzungen für die Gewährung sowie den Ausschluß- und Kürzungstatbeständen, die die Tarifvertragsparteien im Rahmen ihres Gestaltungsspielraums festgelegt haben(ständige Rechtsprechung BAG 19. Februar 1998 – 6 AZR 460/96 – BAGE 88, 92, 97 mwN; 11. Juni 1997 – 10 AZR 784/96 – AP BMT-G II § 24 Nr. 2). Danach ergibt sich, daß die Tarifvertragsparteien zwar vergleichsweise kurze Wartezeiten und Zeiten tatsächlicher Arbeitsleistung normiert, jedoch durch die Staffelung der Höhe der Jahressonderzahlung in § 2 Abs. 3 TV deutlich gemacht haben, daß sie in der Vergangenheit erbrachte Leistungen zusätzlich honorieren wollen. Weiterhin wollen sie einen Anreiz für künftige Betriebstreue bieten, da sie ein am Auszahlungstag ungekündigt bestehendes Arbeitsverhältnis verlangen und die Jahressonderzahlung zurückgezahlt werden muß, wenn der Arbeitnehmer vor dem 31. Dezember des Kalenderjahres selbst kündigt oder bis zum 31. März des Folgejahres fristlos entlassen wird oder einen Arbeitsvertragsbruch begeht. Stellen die Tarifvertragsparteien anspruchshindernde Voraussetzungen auch für den Fall einer betriebsbedingten Kündigung auf, ist dies grundsätzlich nicht zu beanstanden(BAG 4. September 1985 – 5 AZR 655/84 – BAGE 49, 281; 4. Mai 1999 – 10 AZR 417/98 – AP BGB § 611 Gratifikation Nr. 214 = EzA BGB § 611 Gratifikation, Prämie Nr. 155).
(2) In § 2 Abs. 5 TV haben die Tarifvertragsparteien den zulässigen Gestaltungsspielraum bei betriebsbedingten Kündigungen aber nur eingeschränkt ausgeübt. Sie gewähren die Jahressonderzahlung einmal dann, wenn das Arbeitsverhältnis am Auszahlungstag betriebsbedingt gekündigt ist. Ebenso entfällt bei einer betriebsbedingten Kündigung die Rückzahlungspflicht nach § 3 Abs. 3 TV. Zum anderen wird aber auch bei einer betriebsbedingten Kündigung verlangt, daß das Arbeitsverhältnis mindestens über die erste Hälfte des Kalenderjahres hinaus bestanden hat. Die Privilegierung der betriebsbedingten Kündigung hinsichtlich des Anspruchs auf die Jahressonderzahlung, für die soziale Gesichtspunkte maßgebend sein können(BAG 17. Januar 1996 – 10 AZR 553/95 – nv.), ist beschränkt durch eine Mindestdauer des Arbeitsverhältnisses über das erste Kalenderhalbjahr hinaus.
Mit der Regelung in § 2 Abs. 5 TV wollen die Tarifvertragsparteien die im Kalenderjahr erbrachten Arbeitsleistungen honorieren. Dies wird dadurch deutlich, daß sie einen anteiligen Anspruch begründen. Werden im Kalenderjahr über das erste Kalenderhalbjahr hinaus nicht nur anteilig, sondern im gesamten Bezugszeitraum Arbeitsleistungen erbracht, so erwächst der volle Anspruch auf die Jahressonderzahlung. Dieser entfällt nicht dadurch wieder, daß Arbeitsleistungen sogar über den 31. Dezember hinaus erbracht werden, weil der Zeitpunkt des Wirksamwerdens der betriebsbedingten Kündigung erst im folgenden Kalenderjahr liegt. Eine sachgerechte Tarifauslegung kann deshalb nur ergeben, daß im Falle einer betriebsbedingten Kündigung, die erst im Folgejahr wirksam wird, wegen der im gesamten Bezugszeitraum erbrachten Arbeitsleistungen auch der Anspruch auf die volle Jahressonderzahlung besteht.
Diese Auslegung wird durch die Tarifgeschichte belegt. Ursprünglich sahen die Tarifverträge in der Textilindustrie Baden-Württemberg einen Anspruch auf Sonderzahlung nur vor, wenn das Arbeitsverhältnis am Auszahlungstag ungekündigt war. Ausnahmeregelungen für betriebsbedingt gekündigte Arbeitnehmer bestanden nicht. Nachdem das Bundesarbeitsgericht tarifliche Regelungen beanstandet hatte, durch die betriebsbedingt gekündigte Arbeitnehmer von einer Sonderzahlung ausgeschlossen wurden, weil sie die erwartete Betriebstreue gar nicht erbringen konnten(BAG 13. September 1974 – 5 AZR 48/74 – AP BGB § 611 Gratifikation Nr. 84 = EzA BGB § 611 Gratifikation, Prämie Nr. 43; 26. Juni 1975 – 5 AZR 412/74 – AP BGB § 611 Gratifikation Nr. 86 = EzA BGB § 611 Gratifikation, Prämie Nr. 47; 27. Oktober 1978 – 5 AZR 287/77 – BAGE 31, 113), haben die Tarifvertragsparteien diesem Gesichtspunkt durch die Änderung der Anspruchsvoraussetzungen Rechnung getragen. Mit dem Tarifvertrag vom 6. Mai 1976 erhielten § 2 Abs. 2 und Abs. 5 TV ihre heutige Fassung. Für betriebsbedingt gekündigte Arbeitnehmer wurde auf die zukunftsbezogene Bindungsklausel verzichtet, wenn sie wenigstens den größeren Teil des Jahres Arbeitsleistungen erbracht hatten. Diese Regelungen wurden auch nach Aufgabe der früheren Rechtsprechung(BAG 4. September 1985 – 5 AZR 655/84 – aaO; 25. April 1991 – 6 AZR 183/90 – BAGE 68, 41; 4. Mai 1999 – 10 AZR 417/98 – aaO) beibehalten. Die der seit 1976 geltenden Regelung zugrunde liegenden Erwägungen hinsichtlich der Honorierung erbrachter Arbeitsleistungen gelten im besonderen Maße für solche Arbeitnehmer, die sogar über die zweite Kalenderjahreshälfte hinaus Arbeitsleistungen erbringen.
Die Auffassung der Beklagten, § 2 Abs. 5 TV wolle nicht die Arbeitsleistungen im Bezugszeitraum honorieren, sondern betriebsbedingt gekündigte Arbeitnehmer mit einer kurzen Kündigungsfrist und geringer sozialer Absicherung finanziell abfedern, findet im Tarifvertrag ebensowenig einen Niederschlag wie der vermeintliche Wille der Tarifvertragsparteien, den Arbeitgeber angesichts langer Kündigungsfristen und fehlender Beschäftigungsmöglichkeiten nicht mit zusätzlichen Zahlungen zu belasten. Ein zu Beginn des Kalenderjahres betriebsbedingt gekündigter Arbeitnehmer mit einer langen Kündigungsfrist könnte zum 31. Dezember ausscheiden und daher eine Zuwendung in Höhe von 12/12 beanspruchen. Ein Arbeitnehmer, der hingegen mit einer dreimonatigen Kündigungsfrist im Oktober gekündigt wird und erst im Januar des Folgejahres ausscheidet, erhielte hiernach trotz seiner kurzen Kündigungsfrist keine Zuwendung. Die Tarifvertragsparteien differenzieren ersichtlich nicht nach der Dauer der Kündigungsfrist, sondern nach den der Dauer des Arbeitsverhältnisses entsprechenden Arbeitsleistungen im Kalenderjahr. Auch eine angeblich gewollte Abfederung von Arbeitslosigkeit kurz vor bzw. nach Weihnachten, findet keinen erkennbaren Niederschlag im Tarifvertrag. Scheidet ein Arbeitnehmer am 15. Juli des Kalenderjahres betriebsbedingt aus, erhält er die Zuwendung in Höhe von 7/12 unabhängig davon, ob er am Auszahlungstag im November eine neue Arbeitsstelle gefunden hat oder nicht.
III. Die Kosten des erfolglosen Rechtsmittels hat die Beklagte zu tragen (§ 97 Abs. 1 ZPO).
Unterschriften
Dr. Freitag, Fischermeier, Marquardt, Tirre, Frese
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 14.11.2001 durch Gaßmann, Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 676210 |
BAGE, 317 |
BB 2002, 1153 |
BB 2002, 632 |
DB 2002, 485 |
ARST 2002, 139 |
FA 2002, 92 |
NZA 2002, 337 |
SAE 2002, 250 |
AP, 0 |
EzA-SD 2002, 9 |
EzA |
AUR 2002, 118 |
RdW 2002, 246 |