Entscheidungsstichwort (Thema)
Verschlechternder Tarifvertrag nach Betriebsübergang
Leitsatz (redaktionell)
Parallelfall zu – 3 AZR 535/94 –, zur Veröffentlichung vorgesehen.
Normenkette
BGB § 613a Abs. 1 Sätze 2-3; TVG § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 1, § 7 Abs. 1; BetrVG § 112
Verfahrensgang
Sächsisches LAG (Urteil vom 20.04.1994; Aktenzeichen 11 (7) Sa 69/93) |
ArbG Leipzig (Urteil vom 22.07.1993; Aktenzeichen 16 Ca 1244/92) |
Tenor
1. Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Chemnitz vom 20. April 1994 – 11 (7) Sa 69/93 – wird zurückgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten der Revision.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Klägerin fordert von der Beklagten, ihrer früheren Arbeitgeberin, eine höhere Abfindung für den Verlust des Arbeitsplatzes. Sie begründet ihre Ansprüche mit einem Tarifvertrag (GPH-TV) vom 28. Januar 1991, abgeschlossen zwischen der Gesellschaft zur Privatisierung des Handels mbH (GPH) und der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV). Die Beklagte beruft sich auf eine Vereinbarung „Sozialplan”) vom 16. Mai 1991, nach der die Höhe einer Abfindung wegen Verlustes des Arbeitsplatzes auf 10.000,– DM begrenzt wird.
Die Klägerin war zunächst in einem HO-Betrieb beschäftigt. Aus der Handelsorganisation ist die L gesellschaft mbH hervorgegangen. Alleingesellschafterin dieser GmbH war die Treuhandanstalt. Diese beauftragte die GPH mit der Privatisierung und Verwertung der Unternehmen im Bereich des Handels.
Unter dem 28. Januar 1991 schloß die GPH mit der HBV einen Tarifvertrag über die Qualifizierung und Milderung wirtschaftlicher Nachteile im Zusammenhang mit der Privatisierung (GPH-TV).
Die GPH handelte „für die von ihr vertretenen Gesellschaften gem. Anlage”. Dieser Tarifvertrag sieht in § 8 Abfindungen für diejenigen Arbeitnehmer vor, deren Arbeitsverhältnis nicht auf einen neuen Arbeitgeber übergeht und gekündigt oder auf Veranlassung des Arbeitgebers durch Aufhebungsvertrag beendet wird. Die Abfindung sollte 25 % des tariflichen Bruttomonatseinkommens pro anrechnungsfähigem Beschäftigungsjahr betragen. Im Falle der Klägerin waren das 17.473,75 DM.
Am 1. März 1991 ging der Betrieb, in dem die Klägerin beschäftigt wurde, auf die N gesellschaft mbH über. Diese Gesellschaft und die HBV „sowie gewählte(n) Vertreter(n) der Betriebsräte der N gesellschaft mbH” vereinbarten am 16. Mai 1991 einen „Interessenausgleich” und „Sozialplan”. Der Sozialplan sollte sogleich in Kraft treten und für alle Mitarbeiter gelten, deren Arbeitsverhältnis betriebsbedingt gekündigt wird und die bis zum 31. Dezember 1991 aufgrund dieser Kündigung aus dem Unternehmen ausscheiden. Für diese Arbeitnehmer waren in § 4 des Sozialplans Abfindungsregelungen vorgesehen. Die Abfindung war auf höchstens 10.000,– DM begrenzt. Die Vereinbarungen (Interessenausgleich und Sozialplan) waren unterschrieben von zwei Mitgliedern der Geschäftsleitung, einer Frau Dr. W für die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen und von vier „gewählten Vertretern der Betriebsräte der Niederlassungsbereiche”.
Am 20. Juni 1991 kündigte die N AG, die Rechtsnachfolgerin der N gesellschaft mbH, das Arbeitsverhältnis der Klägerin. Sie zahlte der Klägerin eine Abfindung von 10.000,– DM. Mit der Klage verlangt die Klägerin die Differenz von 7.473,75 DM.
Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, der Tarifvertrag sei wirksam zustande gekommen. Die L GmbH sei Partei des Tarifvertrages geworden; sie sei von der GPH wirksam bei Abschluß des Tarifvertrages vertreten worden. Zumindest habe die Gesellschaft den Tarifvertrag nachträglich genehmigt. Durch die Vereinbarung vom 16. Mai 1991 seien ihre tariflich begründeten Ansprüche nicht beschränkt worden. Tarifliche Ansprüche könnten durch einen Sozialplan nach dem BetrVG nicht abbedungen werden.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 7.473,75 DM nebst 4 % Zinsen hieraus seit dem 6. April 1992 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Ansicht vertreten, sie sei an den GPH-TV nicht gebunden. Sie sei von der GPH nicht wirksam vertreten worden. Die Vereinbarung vom 16. Mai 1991 sei ein Firmentarifvertrag. Dieser habe in zulässiger Weise eine Höchstbegrenzung für Abfindungen eingeführt.
Das Arbeitsgericht hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht das Urteil abgeändert; es hat die Klage abgewiesen. Mit der Revision will die Klägerin erreichen, daß das erstinstanzliche Urteil wiederhergestellt wird.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist nicht begründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Klägerin Ansprüche aus dem GPH-TV erworben hat. Der Anspruch auf Zahlung einer höheren Abfindung ist durch die Vereinbarung vom 16. Mai 1991 wirksam begrenzt worden. Diese Vereinbarung ist ein Firmentarifvertrag.
I. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage u.a. mit der Begründung abgewiesen, die Klägerin habe keine Tarifbindung der L GmbH nachgewiesen. Der Tarifvertrag sei auch nicht nachträglich genehmigt worden.
Der Senat kann offen lassen, ob die Auffassung des Landesarbeitsgerichts zutrifft. Er kann zugunsten der Klägerin unterstellen, daß sie Ansprüche aus dem GPH-TV auf Zahlung der höheren Abfindung erworben hatte. Dennoch ist die Klage nicht begründet.
II. Die nach dem GPH-TV begründeten Ansprüche der Klägerin sind durch die Vereinbarung vom 16. Mai 1991 abgelöst worden.
1. Die Ansprüche der Klägerin ergaben sich zunächst aus den Rechtsnormen eines Firmentarifvertrages, den die GPH für die L GmbH mit der HBV vereinbart hatte. Nach dem Betriebsübergang am 1. März 1991 ist die die Abfindungsansprüche regelnde Rechtsnorm des Tarifvertrages Inhalt des Arbeitsverhältnisses zwischen der Klägerin und dem neuen Inhaber des Betriebes, der N GmbH, geworden (§ 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB).
2. Der Inhalt des Arbeitsverhältnisses konnte durch weiteren Firmentarifvertrag vom 16. Mai 1991 zum Nachteil der Klägerin abgeändert werden.
a) Bei der als „Sozialplan” bezeichneten Vereinbarung vom 16. Mai 1991 handelt es sich um einen Firmentarifvertrag.
aa) Die Parteien dieser Vereinbarung, die Rechtsvorgängerin der Beklagten und die HBV sind tariffähig. Ein einzelner Arbeitgeber und die Gewerkschaften können Tarifverträge abschließen (§ 2 Abs. 1 TVG).
bb) Die Vereinbarung enthält Regelungen, die nach § 1 Abs. 1 TVG Inhalt eines Tarifvertrages sein können. Ein Tarifvertrag regelt die Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien und enthält Rechtsnormen, die den Inhalt, den Abschluß und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen ordnen (§ 1 Abs. 1 TVG). Die Bestimmungen des „Sozialplans” enthalten Regelungen, die die Beendigung von Arbeitsverhältnissen betreffen.
cc) Die Bezeichnung dieser Vereinbarung als „Sozialplan” steht dieser rechtlichen Würdigung nicht entgegen. Zwar handelt es sich bei den Begriffen „Interessenausgleich” und „Sozialplan” um Begriffe aus dem Betriebsverfassungsgesetz. Mit ihnen werden Vereinbarungen des Arbeitgebers mit dem Betriebsrat im Sinne von § 112 BetrVG bezeichnet. Sie können aber nur betriebsverfassungsrechtlich wirksame Vereinbarungen sein, wenn sie zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat vereinbart werden. Das ist hier nicht geschehen. Als Interessenvertretung der Arbeitnehmer sind neben der HBV nur die „gewählten Vertreter der Betriebsräte …” aufgetreten. Die gewählten Vertreter der Betriebsräte sind nicht der Betriebsrat, auch nicht der Gesamtbetriebsrat. An der Vereinbarung war weder ein Betriebsrat noch ein Gesamtbetriebsrat beteiligt.
dd) Die Gewerkschaft HBV wurde bei Abschluß des Tarifvertrages wirksam von Frau Dr. W vertreten. Die Vollmacht dieser Vertreterin war nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts zuletzt nicht mehr streitig. Daß die Tarifkommission der HBV nicht beteiligt wurde, berührt die Wirksamkeit des Tarifvertrages nicht. Die Tarifkommission hat lediglich eine gewerkschaftsinterne Bedeutung. Sie soll die vertretungsberechtigten Vorstandsmitglieder beraten (vgl. Däubler, Tarifvertragsrecht, 3. Aufl., Rz 102). Auch der Verstoß gegen § 7 Abs. 1 TVG berührt die Wirksamkeit des Tarifvertrages nicht. Nach dieser Bestimmung sind die Tarifvertragsparteien verpflichtet, dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung den abgeschlossenen Tarifvertrag zu übersenden. Dabei handelt es sich um eine öffentlich-rechtliche Ordnungsvorschrift, die die Wirksamkeit des Tarifvertrages nicht berührt.
b) Die ursprünglich tarifvertraglichen Ansprüche der Klägerin konnten wirksam durch den neuen Tarifvertrag zum Nachteil der Klägerin geändert werden. § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB steht nicht entgegen. Zwar darf der Inhalt des Arbeitsverhältnisses zwischen dem neuen Inhaber und dem Arbeitnehmer nicht vor Ablauf eines Jahres nach dem Zeitpunkt des Übergangs zum Nachteil des Arbeitnehmers geändert werden. Das gilt aber nicht, wenn die Rechte und Pflichten bei dem neuen Inhaber durch Rechtsnormen eines anderen Tarifvertrages geregelt werden (§ 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB). Diese Bestimmung ist nicht nur dann anzuwenden, wenn die kollektiv-rechtliche Bestimmung, hier ein Tarifvertrag, schon im Zeitpunkt des Übergangs als Tarifvertrag besteht. Die Vorschrift ist auch dann anzuwenden, wenn nach Übergang des Arbeitsverhältnisses später ein Tarifvertrag abgeschlossen wird, an den die Parteien des Arbeitsvertrages gebunden sind. Das ergibt sich aus dem Zweck dieser Regelung. Sie soll den Vorrang kollektiv-rechtlicher Verpflichtungen vor den individualrechtlichen Verpflichtungen, die in § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB beschrieben werden, sichern (BAG Urteil vom 20. April 1994 – 4 AZR 342/93 – AP Nr. 108 zu § 613 a BGB). Der Arbeitgeber soll die Möglichkeit haben, die Arbeitsbedingungen an die in seinem Unternehmen üblichen Arbeitsbedingungen anpassen zu können (RGRK-Ascheid, BGB, § 613 a Rz 217; Kreßel, DB 1989, 1623, 1625, in Bezug auf die Ablösung individual-rechtlicher Normen durch eine nachfolgende Betriebsvereinbarung). Die einjährige Veränderungssperre verbietet nur eine individual-rechtliche Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, nicht eine spätere Änderung durch eine gleichrangige kollektiv-rechtliche Regelung.
Das Günstigkeitsprinzip steht nicht entgegen (vgl. Kreßel, aaO; Röder, DB 1981, S. 1980, 1981; Seiter, Betriebsinhaberwechsel, 1980, S. 94). Im Verhältnis von zwei aufeinanderfolgenden Tarifverträgen gilt die Zeitkollisionsregel. Der jüngere Tarifvertrag tritt an die Stelle des älteren Tarifvertrages. Dabei können die Tarifvertragsparteien eine Tarifnorm sowohl zugunsten als auch zum Nachteil der betroffenen Arbeitnehmer ändern (ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, vgl. zuletzt Urteil des Senats vom 24. August 1993 – 3 AZR 313/93 – AP Nr. 19 zu § 1 BetrAVG Ablösung). Auch im Fall des Betriebsübergangs muß der ursprünglich kollektiv-rechtliche Gehalt der Arbeitnehmerrechte einer Veränderung durch nachfolgende Kollektivvereinbarung zugänglich bleiben. Anderenfalls würden die von einem Betriebsinhaberwechsel betroffenen Arbeitnehmer besser gestellt als die Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis unverändert zu ein und demselben Arbeitgeber weiterbesteht.
Im übrigen bestehen keine rechtlichen Bedenken gegen die Einschränkung. Der verschlechternde Tarifvertrag verstößt weder gegen das Grundgesetz noch gegen zwingendes Gesetzesrecht oder gegen tragende Grundsätze des Arbeitsrechts (vgl. BAG, aaO). Derartige Rechtsverletzungen sind im Streitfall nicht zu erkennen. Die Absenkung des Abfindungsanspruches auf 10.000,– DM trägt der wirtschaftlichen Belastbarkeit des Unternehmens, das den Tarifvertrag mit der Gewerkschaft abgeschlossen hat, Rechnung.
Unterschriften
Dr. Heither, Kremhelmer, Mikosch, Dr. Offergeld, Köhne
Fundstellen