Entscheidungsstichwort (Thema)
Außerordentliche Kündigung wegen Tätigkeit für das MfS
Normenkette
Einigungsvertrag Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A. Abschn. III Nr. 1 Abs. 5 Ziff. 2
Verfahrensgang
LAG Mecklenburg-Vorpommern (Urteil vom 12.08.1996; Aktenzeichen 5 Sa 49/96) |
ArbG Schwerin (Urteil vom 24.01.1996; Aktenzeichen 22 Ca 1120/95) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 12. August 1996 – 5 Sa 49/96 – aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Schwerin vom 24. Januar 1996 – 22 Ca 1120/95 – wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung, die die Beklagte auf Kapitel XIX Sachgebiet A. Abschnitt III Nr. 1 Abs. 5 Ziff. 2 der Anlage I zum Einigungsvertrag (künftig: Abs. 5 Ziff. 2 EV) stützt.
Der im Jahre 1941 geborene Kläger ist Dipl.-Ing. für Biomedizintechnik und seit dem 5. Juli 1973 am Krankenhaus der Beklagten, zuletzt als Abteilungsleiter in der Medizintechnik (VergGr. III BAT-O), beschäftigt. Im Juli 1990 wurde er in den Personalrat des Krankenhauses gewählt. Er gab sodann wie alle Mitglieder und Ersatzmitglieder des Personalrats die Erklärung ab, in der Vergangenheit weder informell noch hauptamtlich Mitarbeiter der Staatssicherheit gewesen zu sein. Eine geforderte „Ehrenerklärung” lehnte er im Oktober 1993 ab. Seit Dezember 1993 war er freigestellter Personalratsvorsitzender und Mitglied des Gesamtpersonalrats.
Noch während seiner früheren Tätigkeit am Rechenzentrum der Ingenieurhochschule W. erklärte sich der Kläger bereit, „auf freiwilliger Basis mit dem MfS zusammenzuarbeiten”. In der handschriftlichen Erklärung vom 17. August 1972 heißt es weiter:
„Ich werde alles in meinen Kräften stehende tun und alle Möglichkeiten im Kampf gegen die Feinde der DDR einsetzen. Über meine Zusammenarbeit mit dem MfS werde ich gegenüber jedermann strengstes Stillschweigen bewahren. Die Ergebnisse meiner Aufträge werde ich schriftlich niederlegen und mit dem Namen „Chris” unterzeichnen.”
In der Folgezeit traf sich der Kläger wiederholt mit Mitarbeitern/Führungsoffizieren des MfS. Außerdem verfaßte er fünf schriftliche Berichte. Ein Bericht betraf die Arbeitssituation und Auslastung des Rechenzentrums sowie persönliche Probleme des Klägers in seinem Arbeitsbereich. Hier berichtete der Kläger auch wie folgt aus dem Parteilehrjahr und über Fernsehgewohnheiten seiner Kollegen:
„Die einzelnen Themen werden genannt, es wird aber vom Thema abgeglitten. Sehr oft wird die Definition des Begriffs Arbeiterklasse diskutiert. Die Intelligenz sei sozial benachteiligt (Wohnungsvergabe, Delegierung der Kinder zur Oberschule oder zum Studium werden zur Begründung angeführt). Dabei wird die Problematik jedoch nicht ernsthaft diskutiert, sondern ins Lächerliche gezogen. Auch die Klassiker des M-L werden abschätzig zitiert. An diesem Parteilehrjahr nehmen nur Genossen teil.
Zur Frage des Westfernsehens
Offen sagt keiner, er sehe Westfernsehen. Aus Gesprächen konnte ich jedoch entnehmen, daß folgende Kollegen Westfernsehen sehen … (es folgen zwölf Namen).”
In einem weiteren Bericht führte der Kläger über eine Arbeitskollegin aus:
„Sie machte anfangs einen sympathischen und freundlichen Eindruck auf mich. Jedoch wurde dieser Eindruck, kurz nachdem ich ihr Vorgesetzter wurde, zerstört. Sie hatte grundsätzlich eine andere Meinung. Dabei blieb sie auch nicht höflich, sondern wurde ausfallend und sogar beleidigend, lief zum staatlichen Leiter und beschimpfte mich dort. … Ihr Ton, mit den Kolleginnen umzugehen, wirkt manchmal militärisch und wird von diesen abgelehnt. Dabei kam es wiederholt zu Auseinandersetzungen besonders mit der ältesten Kollegin.
Von den Kollegen und Kolleginnen wird sie nicht besonders geachtet, da sie an allem etwas auszusetzen hat, wobei sie dann persönlich und ausfallend wird. Es wird die Meinung vertreten, daß sie offenbar an Minderwertigkeitskomplexen leidet. Aus verschiedenen Gesprächen im Frühstücksraum konnte ich entnehmen, daß sie Westfernsehen gesehen haben muß. Im Parteilehrjahr und in den Versammlungen verhält sie sich fast immer passiv.”
Im übrigen berichtete der Kläger auftragsgemäß über seine Kontaktaufnahmen zu eingereisten Besuchern aus der Bundesrepublik. Hier heißt es u.a.:
„Das Gespräch am Mittwoch verlief in gelockerter Stimmung. Herr … erklärte, er kenne Gespräche dieser Art von seinen vorhergehenden Besuchen. So kamen wir sofort auf politische Fragen zu sprechen. Dabei war zu erkennen, daß Fam. … zwar Interesse an politischen Auseinandersetzungen zeigte, jedoch nicht von der Frage „Wem nützt es” und gar nicht von der Klassenfrage der Gesellschaft ausgeht. Herr … beispielsweise erklärte: „Bei uns gibt es keine Arbeiter und Kapitalisten, bei uns gibt es nur Bürger”. Weiterhin meinte er, unsere Zeitungen hätten keinen Informationsgehalt und Frau … meinte, sie würden … Informationen verfälschen. Sie sprach in diesem Zusammenhang von dem Zwischenfall an der Grenze zu West-Berlin. Herr … erwartet von dem weiteren Ausbau der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten, daß die Bürger der DDR die Möglichkeit erhalten, Informationsquellen der BRD zu benutzen. Frau … sprach sich anerkennend über die Schulbücher der DDR aus (sie ist Lehrerin). Diese Schulbücher sind ihnen während des Studiums von ihren Dozenten empfohlen worden. In unseren Schulbüchern ist neben der politischen auch die soziale und ökonomische Geschichte behandelt, während in westdeutschen Lehrbüchern fast ausschließlich die politische Geschichte dargestellt wird (sie ist Lehrerin für Geschichte). Herr … ist Student der Theologie an der Hamburger Universität. Er stammt aus der Lübecker Gegend. Seine Eltern wohnen in Lübeck. Als Kind ist er oft in Wismar gewesen. Er bewohnt in Hamburg eine Zwei-Zimmerneubauwohnung und zahlt 267,00 DM Miete. Sein Stipendium beträgt 420,00 DM. Er ist im neunten Semester. Seinen künftigen Wirkungskreis kennt er noch nicht, da er nicht weiß, wie lange er noch studieren will. Wahrscheinlich will er zwölf Semester machen, erklärte er. … Er zeigte sich redegewandt und gut informiert. Mir schien, er war auf das Gespräch gut vorbereitet.”
Der nächste Bericht des Klägers lautet im wesentlichen wie folgt:
„Es gelang mir nicht, mich für ein Gespräch anzumelden, bevor Herr … einreiste. … Herr … erklärte mir, er würde sich über ein Gespräch freuen, sei aber in Eile und würde Weihnachten gerne zu einem Gespräch bereit sein. Ich hatte den Eindruck, als hätte er auf einen Besuch einer staatlichen Institution gewartet.
Er lud mich ein, ihn in seinem Wagen zu begleiten. Ich fuhr bis zum Ortsausgang Wismar in Richtung Lübeck mit. In dem unterwegs geführten Gespräch erkundigte er sich nach dem Inhalt des von mir geplanten Gesprächs. Ich nannte ihm Themen wie Konferenz von Helsinki, X. Festival. Eingehend auf die Arbeit, erzählte er mir, er wäre E- Dipl.-Ing. und arbeite in der Akkumulatorenherstellung.
Er machte einen sehr interessierten und aufgeschlossenen Eindruck. Leider war die Zeit zu kurz, um ein umfassendes Bild zu bekommen. Ich halte es aber durchaus angebracht, das begonnene Gespräch fortzuführen.”
Schließlich berichtete der Kläger:
„Das Gespräch fand am 26.09.73 von 17.00 bis 18.00 Uhr statt. Anwesend waren Herr …, Herr … und dessen Sohn (18). Zunächst reagierte Herr … sehr abweisend. Seine Begriffsauffassungen philosophischer Begriffe sind von der bürgerlichen Ideologie geprägt, mit leichtem Hang zum Anarchismus. So versteht er z.B. die Freiheit als bürgerliche Freiheit und sieht sie als einzige und absolute Freiheit an. Unsere Menschen in der DDR wären nicht frei, da sie ihren Wohnsitz nicht frei wählen können. Die Freiheit, Kriegspropaganda treiben zu dürfen, sieht er als Bestandteil seiner absoluten Freiheit an (jeder darf sagen was er will).
Herr … ist Student an der Ingenieurschule Wedel und studiert technische Physik. Er befindet sich im dritten Semester. Seine spätere Tätigkeit ist ihm noch unklar. Er weiß noch nicht, wo er einmal arbeiten wird. Er bewohnt gemeinsam mit seinem Bruder (Arbeiter) eine Wohnung. Er bekommt Stipendium.
Nach anfänglicher Abweisung, vor allem zu politischen Fragen, wurde beim Gespräch über persönliche Belange die Atmosphäre etwas gelockerter und er kam etwas mehr aus sich heraus. So konnte diese Atmosphäre auch später beibehalten werden, als das Gespräch sich wieder politischen Fragen zuwandte. Dabei konnte ich feststellen, daß sein Faktenwissen über das Leben in der BRD doch lückenhaft und von der Presse der BRD geprägt war. Er macht sich wenig Gedanken über sein eigenes Leben, eine ausgesprochene Konsumideologie. Er hat sich vor kurzer Zeit einen Wagen gekauft … Ich machte ihm den Vorschlag, mit meinem Wagen zu fahren, betonte aber die Unverbindlichkeit meines Vorschlags, da der Sohn und die Tochter der Familie … mitzufahren wünschten. Ein weiteres Gespräch halte ich für nicht angebracht.”
Der Kläger erhielt mehrfach Geldbeträge für seine Tätigkeit, nach den Gauck-Akten insgesamt 185,00 Mark, nach seiner eigenen Darstellung 40,00 bis 60,00 Mark.
Die IM-Erfassung endete am 18. August 1975, nachdem der Kläger ab Oktober 1973 begonnen hatte, sich der Zusammenarbeit zu entziehen. In der Abschlußbeurteilung des MfS vom 8. August 1975 heißt es:
„Der IM „Chris” wurde am 17.08.1972 geworben. Sein Einsatz erfolgte, wie im Vorschlag vorgesehen, als Kontakt-IM. Diese Aufgabe erfüllte er bis Oktober 1973 ordnungsgemäß und schloß in der Zusammenarbeit bis dahin fünf Kontakte.
Ab Oktober 1973 begann sich der IM der Zusammenarbeit zu entziehen. Er erschien nicht mehr regelmäßig zu den vereinbarten Treffs, er mußte mehrfach zu den Treffs aufgefordert werden, Aufträge wurden zwar angenommen, aber nicht erfüllt. Danach befragt, warum er die erstellten Aufträge nicht mehr erfüllt, gab er zur Antwort, daß er Angst habe, Kontakte zu schließen, warum wisse er auch nicht, aber das bestehende Angstgefühl könne er nicht mehr überwinden.
In Gesprächen und durch Vermittlung von Ratschlägen und anderen Hinweisen für die Kontaktschließung wurde versucht, den IM weiterhin in dieser Richtung einzusetzen, um sich Erfahrungen anzueignen. Auch dies hatte keinen Erfolg. Obwohl er versprach, sich zu bessern, trat keine Wendung hinsichtlich der Zusammenarbeit ein.
Aus den genannten Gründen ist eine weitere Zusammenarbeit mit dem IM nicht zweckmäßig.”
Die Beklagte erhielt am 28. Februar 1995 durch die Gauck-Behörde Kenntnis von der MfS-Tätigkeit des Klägers. Sie hörte den Kläger am 1. März 1995 hierzu an und kündigte das Arbeitsverhältnis sodann am 10. März 1995 außerordentlich fristlos. Diese Kündigung ist vom Arbeitsgericht rechtskräftig für unwirksam erklärt worden, da die Beklagte die Zustimmung des Gesamtpersonalrats nicht eingeholt hatte.
Nach Zustimmung des Personalrats und des Gesamtpersonalrats kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 9. Juni 1995, dem Kläger zugegangen am 16. Juni 1995, erneut außerordentlich fristlos.
Mit einem am 23. Juni 1995 beim Arbeitsgericht eingereichten Schriftsatz hat der Kläger geltend gemacht, die Kündigung sei rechtsunwirksam. Die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses sei nicht unzumutbar. Zum Kontakt mit dem MfS sei es infolge persönlicher und dienstlicher Schwierigkeiten an seinem Arbeitsplatz im Rechenzentrum gekommen. Bereits im Werbungsgespräch sei ihm die Möglichkeit eines dienstlichen Einsatzes „im Westen” in Aussicht gestellt worden. Daraufhin habe er die Verpflichtungserklärung unterzeichnet, da er einen solchen Einsatz zur Flucht habe nutzen wollen. Folgerichtig habe er seine Tätigkeit für das MfS eingestellt, nachdem ihm bedeutet worden sei, sein Einsatz im Westen komme nicht in Frage. Bei den im Zusammenhang mit Westfernsehen genannten Kollegen habe es sich um die Mitglieder der Parteileitung gehandelt. Die ganze MfS-Tätigkeit habe nur etwa vier Monate gedauert.
Der Kläger hat, soweit noch von Bedeutung, beantragt festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die Kündigung der Beklagten vom 9. Juni 1995 aufgelöst worden sei.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Nach ihrer Auffassung ist die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses angesichts der herausgehobenen Position des Klägers als Ingenieur für Medizintechnik unzumutbar. Zudem halte der Kläger als freigestellter Personalratsvorsitzender und als Mitglied des Gesamtpersonalrats gegenüber der Öffentlichkeit, insbesondere aber auch gegenüber den Beschäftigten, eine herausragende Stellung inne. Zwar sei dessen Tätigkeit für das MfS nicht von längerer Dauer, dafür aber umso intensiver gewesen. Der Kläger habe aus eigennützigen Motiven gehandelt. Er habe negativ über Personen berichtet. Eine erkennbare Abkehr vom MfS, z.B. durch Offenbarung der Tätigkeit, sei auch nach der Veränderung der politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse nicht erfolgt. Im Gegenteil habe der Kläger sowohl im Anschluß an die erste Personalratswahl als auch in einem Antrag auf Anerkennung von Vordienstzeiten angegeben, nie für das MfS tätig gewesen zu sein. Sein Engagement in der Personalvertretung könne nicht zu seinen Gunsten berücksichtigt werden. Diese Position habe er nur unter Verschleierung seiner früheren Mitarbeit beim MfS erworben.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat sie abgewiesen. Mit der vom Senat zugelassenen Revision hält der Kläger an seinem Klagantrag fest.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet.
I. Das Landesarbeitsgericht hat im wesentlichen ausgeführt:
Das Arbeitsverhältnis der Parteien sei mit Zugang der Kündigung aufgelöst worden. Der Beklagten sei die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses gem. Abs. 5 Ziff. 2 EV nicht zumutbar. Zugunsten des Klägers spreche, daß seine letzte Tätigkeit für das MfS am 3. Oktober 1990 über 15 Jahre zurückgelegen habe, die Verpflichtung sogar über 18 Jahre. Auch habe seine Erfassung als IM nur drei Jahre gedauert und die Absatzbewegung vom MfS nach etwas mehr als einem Jahr begonnen. Belastend wirke hingegen, daß der Kläger die Mitarbeit beim MfS freiwillig und auf der Grundlage seiner politisch-ideologischen Überzeugung aufgenommen habe. Als langjähriges Mitglied der SED habe er sich mit den politischideologischen Grundüberzeugungen der SED und den Staatszielen der DDR identifiziert. Das gehe aus dem Bericht über die Durchführung des Parteilehrjahres am Rechenzentrum und aus dem Wortlaut der Verpflichtungserklärung hervor. Für den ideologisch geschulten Kläger habe nicht zweifelhaft sein können, daß „Hauptfeind” der DDR die Bundesrepublik Deutschland gewesen sei. Tatsächlich habe der Kläger dann versucht, fünf Bundesbürger auf ihre Geeignetheit für eine weitergehende Verstrickung beim MfS abzuklopfen. Die politisch-weltanschauliche Einschätzung seiner Gesprächspartner und die Wiedergabe einzelner ihrer Äußerungen könnten nicht als „Belanglosigkeiten” gewertet werden. Vielmehr habe dem Kläger klar sein müssen, daß er offenbar ahnungslose Bürger aus Westdeutschland der weiteren Aufmerksamkeit des MfS empfohlen habe. Seine Darstellung, es sei ihm nur um einen Westeinsatz und um eine Fluchtmöglichkeit gegangen, sei unglaubwürdig. Als 31-jähriger mit abgeschlossenem Hochschulstudium und intensiven politischgesellschaftlichen Schulungen habe er die weitreichenden Auswirkungen seiner diesbezüglichen Überlegungen voll überblicken können. Er habe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nie ernsthaft die Vorstellung gehegt, sich ausgerechnet vom MfS die Ausreise in den Westen organisieren zu lassen. Seine Motivation zur MfS-Tätigkeit sei nicht restlos aufklärbar, eine Rolle könne die Hoffnung auf Hilfestellung durch das MfS bei beruflichen Problemen spielen.
Der Kläger habe auch in belastender und gefährdender Art und Weise über DDR-Bürger, sogar über ihm unterstellte Arbeitskollegen berichtet. Westfernsehen sei 1972/73 keine Lapalie gewesen. Es sei durchaus kein Akt systemkritischen Widerstandes, nach einer Auseinandersetzung Arbeitskollegen und Parteigenossen beim MfS mit einer (angeblichen) Westorientierung anzuzeigen. Die gleiche Methode habe der Kläger in dem Bericht über eine einzelne Kollegin angewandt. Belastend sei weiter, daß er für seine Spitzeldienste mehrfach Geld angenommen habe. Ihm sei zugute zu halten, daß er sich nicht ohne Geschick mit dem kaum widerlegbaren Argument, die Angst bei der Ausführung der IM-Tätigkeit nicht mehr überwinden zu können, der Zusammenarbeit entzogen habe. Daß die Motive hierfür im Unklaren blieben, entkräfte dieses Entlastungsmoment wiederum.
Über das weitere Verhalten des Klägers vor und bei der Wende seien keine Einzelheiten vorgetragen worden. Nach der Wende habe der Kläger gegenüber der Beklagten zwar seine Mitarbeit beim MfS nicht nachweisbar geleugnet. Allerdings habe er auch nicht die Wahrheit zugegeben, es vielmehr vorgezogen, entsprechende Erklärungen zu verweigern. Dies relativiere die lange Zeit seit Beendigung der Mitarbeit. Die Amtsführung des Klägers als Personalratsvorsitzender müsse grundsätzlich außer Betracht bleiben. Denn die Art und Weise der Ausübung eines Personalratsamtes sei strikt zu trennen von der Frage, ob die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses wegen der MfS-Mitarbeit unzumutbar sei. Weder könne sich also der Kläger entlastend auf eine besonders angenehme und erfolgreiche Zusammenarbeit mit der Beklagten berufen, noch könne die Beklagte belastend darauf verweisen, der Kläger habe als selbst Belasteter an der Kündigung ehemaliger MfS-Mitarbeiter mitgewirkt. Der Kläger habe zwar Bereitschaft gezeigt, ein Amt in der neuen Arbeitsverfassung zu übernehmen, am Aufbau einer demokratischen Verwaltung aktiv mitgearbeitet und sich für die Interessen seiner Arbeitskollegen eingesetzt. Zugleich habe er aber auch durch die wahrheitswidrige Erklärung, niemals für das MfS tätig gewesen zu sein, deren Vertrauen mißbraucht. Es könne dahinstehen, ob für die Beurteilung der Unzumutbarkeit die vertragliche Stellung als Leiter der Bio-Medizintechnik oder die Tätigkeit als freigestellter Personalratsvorsitzender zugrunde zu legen sei. Denn der Kläger besitze jeweils einen maßgeblichen Einfluß auf die weitere Entwicklung des Betriebes und sei der besonderen Aufmerksamkeit der innerbetrieblichen wie der allgemeinen Öffentlichkeit gewiß.
II. Diese Ausführungen halten der revisionsgerichtlichen Überprüfung weder in der Begründung noch im Ergebnis stand. Dem Landesarbeitsgericht sind im Rahmen der Einzelfallprüfung Rechtsfehler unterlaufen, die zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führen. Der Senat kann angesichts des im wesentlichen unstreitigen Sachverhalts selbst abschließend zugunsten des Klägers entscheiden (§ 564 Abs. 1, § 565 Abs. 3 Nr. 1 ZPO).
1. Die Kündigung wegen einer MfS-Tätigkeit ist nach der ständigen Rechtsprechung des Senats nach folgenden Grundsätzen zu beurteilen:
a) Nach Abs. 5 Ziff. 2 EV liegt ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung vor, wenn der Arbeitnehmer für das frühere MfS/AfNS tätig war und deshalb ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheint. Bei inoffiziellen Mitarbeitern ist ebenso wie bei hauptamtlichen Mitarbeitern eine außerordentliche Kündigung nur gerechtfertigt, wenn eine bewußte, finale Tätigkeit für das MfS/AfNS vorliegt (vgl. BAG Urteil vom 26. August 1993 – 8 AZR 561/92 – BAGE 74, 120 = AP Nr. 8 zu Art. 20 Einigungsvertrag; BAG Urteil vom 23. September 1993 – 8 AZR 484/92 – BAGE 74, 257 = AP Nr. 19 zu Einigungsvertrag Anlage I Kap. XIX). Ob wegen der Tätigkeit für das MfS ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheint, muß in einer Einzelfallprüfung festgestellt werden. Nicht jedem, der für das MfS tätig war, ist zu kündigen. Das individuelle Maß der Verstrickung bestimmt über die außerordentliche Auflösbarkeit des Arbeitsverhältnisses. Je größer das Maß der Verstrickung, desto unwahrscheinlicher ist die Annahme, dieser Beschäftigte sei als Angehöriger des öffentlichen Dienstes der Bevölkerung noch zumutbar (vgl. BAG Urteil vom 11. Juni 1992 – 8 AZR 474/91 – BAGE 70, 309, 320 – AP Nr. 4 zu Einigungsvertrag Anlage I Kap. XIX, zu B II 1 c der Gründe). Beim inoffiziellen Mitarbeiter wird sich der Grad der persönlichen Verstrickung vor allem aus Art, Dauer und Intensität der Tätigkeit sowie aus Zeitpunkt und Grund der Aufnahme und der Beendigung der Tätigkeit für das MfS ergeben. Maßgebend ist, ob das Vertrauen der Bürger in die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung bei Bekanntwerden der Tätigkeit für das MfS in einer Weise beeinträchtigt würde, die das Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar macht. Eine glaubwürdige rechtsstaatliche Verwaltung kann nicht auf der Annahme aufgebaut werden, die Belastung eines Mitarbeiters werde schon nicht bekannt werden. Ebenfalls zu beachten ist die Art der Tätigkeit, die der Arbeitnehmer in dem in Frage stehenden Arbeitsverhältnis ausübt, einschließlich seiner Wirkungsmöglichkeiten und Befugnisse. Die Beschäftigung eines belasteten Arbeitnehmers mit rein vollziehender Sachbearbeitertätigkeit oder handwerklicher Tätigkeit wird das Vertrauen in die Verwaltung weniger beeinträchtigen als die Ausübung von Entscheidungs- und Schlüsselfunktionen durch einen ebenso belasteten Arbeitnehmer (vgl. BVerfG Urteil vom 8. Juli 1997 – 1 BvR 1934/93 – NJW 1997, 2305 f., zu C I 2 b der Gründe).
b) Der Frage, ob die frühere Tätigkeit ein Festhalten am jetzigen Arbeitsverhältnis noch zu rechtfertigen vermag, wohnt auch ein zeitliches Element inne. Der Arbeitgeber kann die Kündigung nicht zeitlich unbegrenzt aussprechen. § 626 Abs. 2 BGB stellt eine Konkretisierung des Gedankens dar, daß die Fortsetzung des Dienst- oder Arbeitsverhältnisses aufgrund von Zeitablauf zumutbar werden kann (vgl. näher Senatsurteil vom 28. April 1994 – 8 AZR 157/93 – BAGE 76, 334, 340, zu II 3 a bb der Gründe, m.w.N.). Die sofortige Lösung des Arbeitsverhältnisses nach längerer Zeit verbietet sich auch unter dem Gesichtspunkt des widersprüchlichen Verhaltens. Der Kündigungsberechtigte darf einen Kündigungsgrund unabhängig von § 626 Abs. 2 BGB nicht beliebig lange zurückhalten, um davon bei ihm gut dünkender Gelegenheit Gebrauch zu machen. Diese Auslegung folgt aus Art. 12 Abs. 1 GG, nach dem der Staat einen Mindestkündigungsschutz zur Verfügung stellen muß. Auch außerhalb des Anwendungsbereichs von § 626 Abs. 2 BGB kann daher der wichtige Grund nach Abs. 5 Ziff. 2 EV durch bloßen Zeitablauf entfallen, ohne daß die weitergehenden Voraussetzungen der allgemeinen Verwirkung, wie das Vorliegen eines Umstandsmoments, erfüllt sein müßten. Der Zeitfaktor ist in jedem Falle zu berücksichtigen. Längere beanstandungsfreie Zeiträume können auf Bewährung, innere Distanz, Abkehr von früheren Einstellungen und Taten hinweisen (BVerfG Urteil vom 8. Juli 1997 – 1 BvR 2111/94 u.a. – NJW 1997, 2307, 2309, zu C II 2 c bb der Gründe). Das gilt – in abgeschwächter Form – auch dann, wenn die Tätigkeit für das MfS nicht vor dem Jahre 1970 abgeschlossen war und deshalb mehr als nur eine äußerst geringe Bedeutung für den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses haben kann (vgl. Senatsurteil vom 11. September 1997 – 8 AZR 316/96 – n.v., zu III 4 b cc der Gründe). Außerdem wird das Erscheinungsbild der Verwaltung mitgeprägt von der Zeitdauer, die der frühere MfS-Mitarbeiter vor und nach der Wiedervereinigung unbeanstandet tätig war.
2. Zwar ist der Kläger bewußt und gewollt für das MfS tätig gewesen. Deshalb erscheint ein Festhalten am Arbeitsverhältnis aber nicht unzumutbar.
a) Das Landesarbeitsgericht hat die mehrjährige Tätigkeit des Klägers im Rahmen der Personalvertretung rechtsfehlerhaft nicht zugunsten des Klägers gewertet. Es hat fälschlich eine Relativierung des Zeitablaufs angenommen, weil der Kläger nicht „reinen Tisch” mit der Vergangenheit gemacht habe. Demgegenüber ist daran festzuhalten, daß es zwar zugunsten des ehemaligen MfS-Mitarbeiters spricht, wenn er sich frühzeitig offenbart. Tut er dies nicht, ohne aber entsprechende Fragen des Arbeitgebers falsch zu beantworten, kommt ihm der Zeitablauf zugute. Die beanstandungsfreien Zeiträume lassen dann auf Bewährung und innere Distanz schließen (vgl. BVerfG Urteil vom 8. Juli 1997 – 1 BvR 2111/94 u.a. – NZA 1997, 992, 995 f.). Ein aktiver Einsatz für die neue demokratische Verwaltung muß stets zugunsten des Arbeitnehmers positiv gewichtet werden.
b) Das Landesarbeitsgericht hat den Zeitablauf seit Beendigung der IM-Tätigkeit nicht ausreichend gewürdigt. Kann eine vor dem Jahre 1970 abgeschlossene Tätigkeit für das MfS nur noch äußerst geringe Bedeutung für den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses haben (BVerfG, a.a.O.), so gilt das in abgeschwächter Form auch für die 1973 beendete Tätigkeit des Klägers. Es bedürfte zumindest eindeutig schwerwiegender Vorfälle oder einer weiteren MfS-Tätigkeit. Die Sicht des Landesarbeitsgerichts ist auch hier von der unrichtigen Beurteilung des späteren Verhaltens des Klägers beeinflußt.
c) Die Berichtstätigkeit des Klägers war zwar keineswegs unerheblich, andererseits nicht so schwerwiegend, daß angesichts der übrigen deutlich entlastenden Umstände eine außerordentliche Kündigung gerechtfertigt wäre. Immerhin offenbarten die in die DDR eingereisten Bundesbürger ihre politisch-weltanschauliche Einstellung freiwillig gegenüber einem ihnen nicht näher bekannten DDR-Bürger. Persönliche Geheimnisse oder zur Druckausübung geeignete Tatsachen wurden nicht ausspioniert. In den beiden anderen Berichten ging es überwiegend um die Auslastung der Dienststelle und um persönliche Probleme des Klägers. Soweit der Kläger über politische Äußerungen und Vorgänge sowie über Fernsehgewohnheiten von Arbeitskollegen berichtet hat, blieb seine Darstellung relativ vage. Zwar hat er wiederholt Geld angenommen (ohne daß zwischen Vergütung und Auslagen getrennt werden könnte). Doch war seine Tätigkeit zwischen 1972 und 1973 verhältnismäßig kurz und dem Umfang nach begrenzt.
d) Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, der Kläger habe die MfS-Mitarbeit freiwillig aufgenommen, es sei ihm nicht um eine Fluchtmöglichkeit gegangen, ist nicht zu beanstanden. Sie wird vom Kläger nicht in erheblicher Weise gerügt. Belastend kann die Freiwilligkeit jedoch nicht gewertet werden, sie entspricht dem gesetzlichen Normalfall. Besondere eigennützige Motive des Klägers hat das Landesarbeitsgericht nicht festgestellt. Die von ihm hervorgehobene politische Einstellung des Klägers verliert durch den langen Zeitablauf bis zur Kündigung jedenfalls stark an Bedeutung.
e) Das Landesarbeitsgericht hat ferner der freiwilligen Abkehr des Klägers vom MfS keine genügende Bedeutung beigemessen. Dieser Tatsache kommt jedoch starkes Gewicht zugunsten des Klägers zu. Die Beweggründe hierfür sind demgegenüber weniger bedeutsam. Jedenfalls kann nicht zu Lasten des Klägers gewertet werden, daß sie letztlich im Unklaren blieben. Eine negative Einstellung zum MfS kann nicht verlangt werden. Entscheidend ist, daß der Kläger sich – schon nach relativ kurzer Zeit – aktiv vom MfS abgesetzt hat, indem er nicht zu Treffen erschienen ist und keine Aufträge mehr ausgeführt hat.
f) Maßgebend für die Beurteilung der Zumutbarkeit ist die arbeitsvertragliche Stellung und Tätigkeit des Klägers, nicht dessen Amt in der Personalvertretung. Es geht nicht um eine Amtsenthebung, sondern um die Kündigung des Arbeitsverhältnisses, also darum, ob der Arbeitnehmer bei der nachgeholten Prüfung für die vertraglich geschuldete Arbeit noch geeignet ist. Die Störung des Arbeitsverhältnisses rührt aus diesem her und wirkt sich auch hier aus. Das personalvertretungsrechtliche Ehrenamt wird demgegenüber nur vorübergehend ausgeübt und liegt nicht im positiven Einflußbereich des Arbeitgebers. Auch die zeitweilige Freistellung spielt keine entscheidende Rolle.
Das Landesarbeitsgericht hat die Bedeutung der Position eines Abteilungsleiters in der Medizintechnik überschätzt. Die Sachverantwortung und die fachtechnische Tätigkeit stehen hier eindeutig im Vordergrund. Jedenfalls hat die Beklagte nicht vorgetragen, der Kläger habe in dieser Position Wirkungsmöglichkeiten nach außen oder etwa eine bedeutende Personalverantwortung.
g) Die aufgezeigten Gesichtspunkte ergeben zusammengenommen, daß der Beklagten ein Festhalten am Arbeitsverhältnis nicht unzumutbar war. Die Gesamtschau weist überwiegend entlastende Momente zugunsten des Klägers auf. Die belastenden Gründe sind nicht so schwerwiegend, daß die Gesamtwürdigung gleichwohl gegen den Kläger ausfallen müßte. Der Kläger hat vor längerer Zeit, verhältnismäßig kurz und nicht besonders intensiv für das MfS gearbeitet. Er hat die Tätigkeit zwar freiwillig aufgenommen, aber auch aus freien Stücken beendet und sich nach der Wende aktiv für die neue demokratische Verwaltung engagiert. Angesichts seiner nicht besonders herausgehobenen Stellung im Arbeitsverhältnis wird das Vertrauen in die Verwaltung durch seine Weiterbeschäftigung nicht erschüttert.
III. Die Beklagte hat die Kosten der Berufung und der Revision gem. den §§ 91, 97 Abs. 1 ZPO zu tragen.
Unterschriften
Ascheid, Dr. Wittek, Mikosch, Noack, Hannig
Fundstellen