Entscheidungsstichwort (Thema)
Kündigungsschutz für Wahlbewerber für ein Mandat im Europäischen Parlament. Kündigungsschutz nach dem EuAbgG
Leitsatz (amtlich)
Nach § 3 Abs. 3 Sätze 2 bis 4 EuAbgG besteht kein nachwirkender Kündigungsschutz für Wahlbewerber, die kein Mandat im Europäischen Parlament erlangt haben.
Orientierungssatz
Die Unwirksamkeit einer Kündigung nach § 3 Abs. 3 Satz 1 EuAbgG setzt voraus, dass die Kündigung auf Gründen beruht, die im Zusammenhang mit der Kandidatur für ein Mandat im Europäischen Parlament stehen.
Normenkette
EuAbgG §§ 3, 1 Abs. 1, § 4 Abs. 1; Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder der Bremischen Bürgerschaft vom 16. Oktober 1978 (AbgG BR – Brem. GBl. 1978, 209) i.d.F. der Bekanntmachung vom 21. Juni 2011 (Brem. GBl. S. 385) § 2 Abs. 4
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Bremen vom 17. Dezember 2015 – 2 Sa 53/15 – wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
Tatbestand
Die Parteien streiten vorrangig über die Anwendung des Kündigungsschutzes auf Wahlbewerber für die Europawahl.
Der Kläger war bei der Beklagten seit November 2012 als Handwerker beschäftigt. Er kandidierte für die Wahl zum Europäischen Parlament im Jahr 2014 auf der Liste der Ökologisch-Demokratischen Partei auf Platz 67. Am 20. Juni 2014 stellte der Bundeswahlausschuss das endgültige Ergebnis der Europawahl für die Bundesrepublik Deutschland fest. Der Kläger erhielt kein Mandat.
Mit Schreiben vom 10. Juli 2014 – dem Kläger am gleichen Tag zugegangen – kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien ordentlich zum 15. August 2014.
Dagegen hat sich der Kläger rechtzeitig mit der vorliegenden Klage gewandt. Die Kündigung verstoße gegen den Kündigungsschutz als Wahlbewerber nach dem Europaabgeordnetengesetz. Zudem sei sie sozial ungerechtfertigt. Bei zutreffender Berechnung der Arbeitnehmerzahl sei der für die Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes maßgebliche Schwellenwert erreicht.
Der Kläger hat beantragt,
- festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 10. Juli 2014 nicht beendet wird;
- im Falle des Obsiegens mit dem Antrag zu 1. die Beklagte zu verurteilen, ihn bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Allroundhandwerker weiterzubeschäftigen.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit seiner Revision verfolgt der Kläger seine Begehren weiter, wobei er sich in der Revisionsbegründung erstmals auf einen besonderen Kündigungsschutz nach dem Bremischen Abgeordnetengesetz beruft.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des Arbeitsgerichts zu Recht zurückgewiesen. Die Kündigung vom 10. Juli 2014 hat das Arbeitsverhältnis der Parteien zum 15. August 2014 aufgelöst.
I. Die Kündigung ist nicht sozial ungerechtfertigt iSv. § 1 Abs. 2 iVm. § 1 Abs. 1 KSchG. Das Landesarbeitsgericht hat unter Berücksichtigung des wechselseitigen Parteivorbringens rechtsfehlerfrei angenommen, der Kläger habe die Voraussetzungen für die Geltung des Ersten Abschnitts des Kündigungsschutzgesetzes nach § 23 Abs. 1 Satz 2, Satz 3 KSchG nicht dargetan. Die Revision erhebt diesbezüglich keine Rügen.
II. Die Kündigung ist nicht wegen Verstoßes gegen § 3 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland (Europaabgeordnetengesetz – EuAbgG) gemäß § 134 BGB nichtig.
1. Nach § 3 Abs. 3 Satz 1 EuAbgG ist eine Kündigung oder Entlassung wegen des Erwerbs, der Annahme oder Ausübung des Mandats unzulässig. „Im übrigen” ist sie nur aus wichtigem Grund zulässig (§ 3 Abs. 3 Satz 2 EuAbgG). Der Kündigungsschutz beginnt mit der Aufstellung des Bewerbers durch das dafür zuständige Organ des Wahlvorschlagsberechtigten. Er gilt ein Jahr nach Beendigung des Mandats fort (§ 3 Abs. 3 Satz 3, Satz 4 EuAbgG).
2. Die Kündigung verstößt nicht gegen § 3 Abs. 3 Satz 1 EuAbgG. Es bedarf vorliegend keiner näheren Auseinandersetzung mit dem personellen und zeitlichen Anwendungsbereich dieser Bestimmung. Sie setzt, soweit sie nach § 3 Abs. 3 Satz 3 EuAbgG Wahlbewerber einschließt, voraus, dass die Kündigung auf Gründen beruht, die im Zusammenhang mit der Kandidatur stehen (KR/Weigand 11. Aufl. ParlKSch Rn. 46; Kittner DVBl. 2010, 893, 894; siehe auch BAG 30. Juni 1994 – 8 AZR 94/93 – zu B I 2 der Gründe, BAGE 77, 184). Dafür finden sich im Vorbringen des Klägers, den für das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen des Unwirksamkeitsgrundes die primäre Darlegungs- und Beweislast trifft, keine Anhaltspunkte. Der Behauptung der Beklagten, sie habe erst nach Zugang der Kündigung von der Bewerbung Kenntnis erlangt, ist er nicht entgegengetreten.
3. Die Kündigung ist nicht iSv. § 3 Abs. 3 Sätze 2 bis 4 EuAbgG unzulässig.
a) Im Anwendungsbereich dieser Bestimmungen ist eine ordentliche Kündigung auch dann ausgeschlossen, wenn sie nicht durch das Mandat oder die Bewerbung bzw. damit zusammenhängende Umstände motiviert ist.
b) Die betreffenden Kündigungsbeschränkungen bestanden im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung am 10. Juli 2014 nicht (mehr). Mit der abschließenden Feststellung des Ergebnisses für das Wahlgebiet durch den Bundeswahlausschuss (§ 18 Abs. 4 EuWG) in seiner Sitzung am 20. Juni 2014 stand verbindlich fest, dass die Kandidatur des Klägers erfolglos geblieben war. Mit Ablauf dieses Tages endete ein ihm aufgrund seiner Wahlbewerbung nach § 3 Abs. 3 Sätze 2 und 3 EuAbgG zustehender Kündigungsschutz. Soweit § 3 Abs. 3 Satz 4 EuAbgG eine zeitlich begrenzte Weitergeltung des Kündigungsschutzes vorsieht, gilt dies nur für Arbeitnehmer, die ein Mandat im Europäischen Parlament erlangt haben (ebenso für die inhaltsgleiche Bestimmung in § 2 Abs. 3 AbgG KR/Weigand 11. Aufl. ParlKSch Rn. 35; Braun/Jantsch/Klante AbgG § 2 Rn. 10; Edebohls ArbRB 2009, 147). Das ergibt, wie das Landesarbeitsgericht richtig gesehen hat, die Auslegung der Vorschrift.
aa) Für die Auslegung von Gesetzen ist der in der Norm zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers maßgebend, wie er sich aus dem Wortlaut der Vorschrift und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den sie gestellt ist. Der Erfassung des objektiven Willens des Gesetzgebers dienen die anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung aus dem Wortlaut der Norm, der Systematik, ihrem Sinn und Zweck sowie aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte, die einander nicht ausschließen, sondern sich gegenseitig ergänzen (BVerfG 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10 ua. – Rn. 66, BVerfGE 133, 168; BAG 21. Dezember 2016 – 5 AZR 374/16 – Rn. 20).
bb) Schon nach dem Gesetzeswortlaut besteht kein nachwirkender Kündigungsschutz für erfolglose Wahlbewerber. Nach § 3 Abs. 3 Satz 4 EuAbgG setzt die auf ein Jahr begrenzte Weitergeltung des Kündigungsschutzes mit der „Beendigung des Mandats” ein. Dabei wird der Begriff des Mandats zwar nicht näher umschrieben. Er hat aber in der Rechtsterminologie einen fest umrissenen Inhalt. Es ist deshalb davon auszugehen, dass der Gesetzgeber ihn auch in seiner rechtlichen – hier staatsrechtlichen (politischen) – Bedeutung unmittelbar angewendet wissen wollte (vgl. BAG 11. September 1985 – 4 AZR 426/84 –). Danach ist Mandat das auf einer Wahl beruhende Amt eines Abgeordneten mit Sitz und Stimme im Parlament, wobei für ein Mandat in der parlamentarischen Demokratie die zeitliche Begrenzung des durch die Wahl erteilten Auftrags zur Vertretung kennzeichnend ist (BAG 11. September 1985 – 4 AZR 426/84 –).
cc) Der gesetzliche Regelungszusammenhang stützt diese Sichtweise. Er lässt es entgegen der Auffassung der Revision nicht zu, die „Beendigung des Mandats” mit dem „Ende der Kandidatur” und insoweit mit dem Zeitpunkt gleichzusetzen, zu dem die Erfolglosigkeit einer Mandatsbewerbung für das Europäische Parlament festgestellt worden ist.
(1) Nach § 1 Abs. 1 EuAbgG gilt das Gesetz „für Bewerber um ein Mandat für das Europäische Parlament” und für „Mitglieder des Europäischen Parlaments”, die in der Bundesrepublik Deutschland gewählt worden sind. Schon dies belegt, dass der Begriff des Mandats auf den repräsentativen Status des Abgeordneten zielt (ebenso für den in Art. 48 Abs. 2 GG gebrauchten Begriff „Amt” eines Abgeordneten: Klein in Maunz/Dürig 79. EL 2016 Art. 48 GG Rn. 30).
(2) Daran knüpfen die Regelungen in § 3 EuAbgG an. Nach § 3 Abs. 1 EuAbgG darf niemand gehindert werden, sich um ein Mandat im Europäischen Parlament zu bewerben, es zu erwerben, anzunehmen oder auszuüben. Soweit § 3 Abs. 2 EuAbgG Benachteiligungen am Arbeitsplatz im Zusammenhang mit der Bewerbung um ein Mandat sowie dem Erwerb, der Annahme und Ausübung eines Mandats für unzulässig erklärt, und § 3 Abs. 3 Satz 1 EuAbgG spezifisch das Verbot von Kündigungen – als der schwerwiegendsten Form der Benachteiligung im Arbeitsverhältnis – wegen des Erwerbs, der Annahme oder Ausübung des Mandats regelt, handelt es sich ersichtlich um eine lediglich Wiederholungen vermeidende, verkürzte Wiedergabe der eingangs gebrauchten Formulierung „… im Europäischen Parlament”, mit der zweifelsfrei die Rechtsstellung eines Europaabgeordneten umschrieben ist. Nichts anderes kann grundsätzlich für die Auslegung des Begriffs in § 3 Abs. 3 Satz 4 EuAbgG gelten. Findet ein Rechtsbegriff innerhalb ein und derselben Norm mehrfach Verwendung, ist aus systematischen Gründen regelmäßig davon auszugehen, dass der Gesetzgeber ihn einheitlich verstanden wissen will.
(3) Soweit § 3 Abs. 3 Satz 1 EuAbgG – im Gegensatz zu dem Behinderungsverbot in Absatz 1 und dem allgemeinen Benachteiligungsverbot in Absatz 2 der Bestimmung – die Bewerbung um das Mandat nicht aufzählt, kann daraus jedenfalls nicht abgeleitet werden, im Rahmen der kündigungsrechtlichen Bestimmungen beziehe der Begriff des Mandats für sich genommen die Bewerbung ein. Die Vorverlagerung des Kündigungsschutzes unter Einschluss „bloßer” Mandatsbewerber folgt inzident aus § 3 Abs. 3 Satz 3 EuAbgG, wonach der Kündigungsschutz mit der Aufstellung des Wahlvorschlags beginnt. Soweit der Kläger seine gegenteilige Auffassung insbesondere auf die Formulierung „wegen des Erwerbs …” stützt, übersieht er, dass das Gesetz insoweit Regelungen in § 21 EuWG Rechnung trägt, die den Mandatserwerb ohne Annahmeerklärung als Regelfall vorsehen (vgl. dazu BT-Drs. 16/7461 S. 23; insoweit auch zu entsprechenden Regelungen in § 2 AbgG aufgrund von § 45 BWG).
dd) Für das gefundene Ergebnis spricht die Entstehungsgeschichte des EuAbgG.
(1) Die Regelungen im EuAbgG lehnen sich weitgehend an die Vorschriften des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Deutschen Bundestags an (Abgeordnetengesetz – AbgG, BT-Drs. 8/362 S. 2). Für die Auslegung von § 3 EuAbgG kann deshalb ergänzend auf die Gesetzesmaterialen zu § 2 AbgG zurückgegriffen werden. Beide Vorschriften stimmen – auch in früheren Fassungen – nahezu wörtlich überein. Soweit § 2 Abs. 1 AbgG auf ein „Mandat im Bundestag” abstellt und nach § 2 Abs. 3 Satz 3 AbgG der Kündigungsschutz „mit der Aufstellung des Bewerbers durch das dafür zuständige Organ der Partei oder mit der Einreichung des Wahlvorschlags” beginnt, liegt darin kein relevanter Unterschied. Dementsprechend erschöpft sich die Begründung zu § 3 EuAbgG, was den Kündigungsschutz betrifft, auch in dem Verweis auf § 2 AbgG als „Vorbild” der Regelungen in § 3 EuAbgG (BT-Drs. 8/362 S. 6 f.).
(2) § 2 AbgG konkretisiert auf einfachgesetzlicher Ebene den verfassungsrechtlich durch Art. 48 Abs. 2 GG gewährleisteten Kündigungsschutz der Abgeordneten im Bundestag. Zugleich wird dieser Schutz sachlich auf nicht mandatsbedingte Kündigungen und zeitlich dahingehend ausgedehnt, dass der Schutz mit der Aufstellung als Bewerber beginnt und ein Jahr nach der Beendigung des Mandats endet. Ein Wille, in den nachwirkenden Schutz erfolglose Parlamentsbewerber einzubeziehen, ist den Gesetzesmaterialien (BT-Drs. 7/5531 S. 13) nicht zu entnehmen. Die dort enthaltene Formulierung, die Regelungen entsprächen „im Grundsatz” dem Kündigungsschutz für Mitglieder des Betriebsrats oder einer Personalvertretung nach dem Kündigungsschutzgesetz, schließt eine vollständige Angleichung des Schutzes gerade aus. Unabhängig davon ist der von mehreren Fraktionen des Bundestags eingesetzte
Zweite Sonderausschuss in seinen Beratungen zum Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung der Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Deutschen Bundestags ausdrücklich nicht der Empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung gefolgt, den Kündigungsschutz nach § 2 Abs. 3 AbgG für die Dauer von sechs Monaten nach dem Wahltag auf nicht gewählte Bewerber auszudehnen (vgl. BT-Drs. 7/5903 S. 9). Die vom Bundestag verabschiedete Fassung des Abgeordnetengesetzes vom 18. Februar 1977 (BGBl. I S. 297) ist hinsichtlich § 2 wortidentisch mit den Beschlüssen des Zweiten Sonderausschusses.
ee) Das vorgenannte Auslegungsergebnis wird durch den so zum Ausdruck gekommenen Normzweck bestätigt.
(1) Die auf das Arbeitsverhältnis bezogenen Bestimmungen in § 3 EuAbgG und § 2 AbgG sollen besondere berufliche Risiken, die für abhängig Beschäftigte mit der Bewerbung und der Einnahme eines Sitzes im Europäischen Parlament einhergehen, begrenzen (allgemein zum Mandatsschutz BGH 2. Mai 1985 – III ZR 4/84 – zu II 3 g der Gründe, BGHZ 94, 248). Die Normen gewährleisten, dass die berufliche Stellung den Bürger nicht von der politischen Beteiligung und Wahrnehmung parlamentarischer Aufgaben abhält und das Abhängigkeitsverhältnis des Arbeitnehmers vom Arbeitgeber die Ausübung von staatsbürgerlichen Pflichten nicht beeinträchtigt (vgl. KR/Weigand 11. Aufl. ParlKSch Rn. 25; BT-Drs. 7/5531 S. 13). Dadurch soll zugleich die Chancengleichheit abhängig Beschäftigter im Verhältnis zu anderen – etwa freiberuflich tätigen – Bewerbern und Parlamentariern gewahrt werden (BGH 2. Mai 1985 – III ZR 4/84 – aaO).
(2) Im Hinblick auf diesen Normzweck und vor dem Hintergrund möglicher Konflikte mit dem Arbeitgeber, die sich aus dem politischen Engagement ergeben könnten, sind Wahlbewerber in der Phase des Wahlverfahrens ähnlich schutzbedürftig wie ein Mandatsträger. Zudem erleichtert die Erstreckung des Kündigungsschutzes auf Wahlbewerber die Durchführung der Wahl zum Europäischen Parlament dadurch, dass sie mutmaßlich die Bereitschaft von Arbeitnehmern zur Kandidatur erhöht.
(3) Ebenso erfordern die typischerweise bestehenden beruflichen Risiken von Arbeitnehmern, die ein Mandat im Europäischen Parlament erlangt haben, einen nachwirkenden Kündigungsschutz. Seit Inkrafttreten des sog. Direktwahlaktes (ABl. L 278 vom 8. Oktober 1976) werden die Mitglieder des Europäischen Parlaments jeweils auf fünf Jahre gewählt. Dementsprechend sind bei einem Mandatsträger regelmäßig wesentlich längere Zeiten der Abwesenheit vom Arbeitsplatz zu erwarten als bei einem erfolglos gebliebenen Bewerber. Dies lässt nach dem Ende der Parlamentszugehörigkeit grundsätzlich Anpassungsschwierigkeiten am Arbeitsplatz erwarten. Über Jahre hinweg auftretende Abwesenheitszeiten eines Arbeitnehmers gehen typischerweise mit einer Lockerung der Bindungen an den Betrieb und die Belegschaft sowie dem Verlust von Erfahrungswissen einher. Solche Umstände führen häufig zu einem erhöhten Einarbeitungsaufwand und damit verbundenen Belastungen des Arbeitsverhältnisses, zumal wenn organisatorische Änderungen im Betrieb hinzutreten (siehe auch BAG 22. Oktober 2015 – 2 AZR 381/14 – Rn. 14, BAGE 153, 102).
(4) Demgegenüber bestehen vergleichbare berufliche Risiken bei erfolglos gebliebenen Wahlbewerbern typischerweise nicht. Dies gilt auch dann, wenn sie den ihnen nach § 4 Abs. 1 EuAbgG zustehenden Wahlvorbereitungsurlaub von bis zu zwei Monaten in Anspruch nehmen. Der Gesetzgeber durfte davon ausgehen, dass durch eine solche Abwesenheit ernsthafte Anpassungsschwierigkeiten am Arbeitsplatz nach Beendigung der längstens zweimonatigen Abwesenheit nicht auftreten.
ff) Der von der Revision abstrakt beschriebene, nicht gänzlich auszuschließende Fall, dass sich ein Arbeitgeber nach Feststellung des Wahlergebnisses von einem erfolglos gebliebenen Bewerber aus Gründen zu trennen sucht, die mit der Bewerbung in Zusammenhang stehen, gebietet jedenfalls nicht eine zeitlich beschränkte Nachwirkung des an die bloße Stellung als Wahlbewerber anknüpfenden Kündigungsschutzes nach § 3 Abs. 3 Sätze 2 und 3 EuAbgG. Vielmehr sind Arbeitnehmer im Anschluss an eine gescheiterte Kandidatur durch das allgemeine Benachteiligungsverbot (§ 3 Abs. 2 EuAbgG) vor Kündigungen, die durch ihre vormalige Bewerbung motiviert sind, hinreichend geschützt.
gg) Das Auslegungsergebnis ist unionsrechtskonform. Weder in Art. 223 bis 234 und Art. 314 AEUV noch im sog. Direktwahlakt oder dem mit Wirkung vom 17. Juli 2009 in Kraft getretenen Abgeordnetenstatut des Europäischen Parlaments sind Bestimmungen enthalten, die es als erforderlich erscheinen lassen, Wahlbewerber zum Europäischen Parlament auf nationaler Ebene nach der Feststellung der Erfolglosigkeit ihrer Kandidatur vor Kündigungen im Arbeitsverhältnis allein aufgrund der Bewerbung besonders zu schützen.
c) Für eine analoge Anwendung von § 3 Abs. 3 Satz 4 EuAbgG auf erfolglos gebliebene Mandatsbewerbungen ist kein Raum (aA, allerdings ohne nähere Begründung, Bieber/Haag Das deutsche Bundesrecht I A 26, S. 13 [zu § 2 Abs. 3 AbgG]). Es fehlt – wie gezeigt – an Anhaltspunkten für eine unbewusste Regelungslücke und an einer Vergleichbarkeit der Interessenlagen als Voraussetzungen einer den Wortsinn überschreitenden Gesetzesanwendung (dazu etwa BAG 11. November 2009 – 7 ABR 26/08 – Rn. 22, BAGE 132, 232).
III. Die Kündigung ist nicht nach § 2 Abs. 4 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder der Bremischen Bürgerschaft vom 16. Oktober 1978 (AbgG BR – Brem. GBl. 1978, 209) idF der Bekanntmachung vom 21. Juni 2011 (Brem. GBl. S. 385) iVm. § 134 BGB unwirksam. Dabei kann dahinstehen, ob der Kläger mit dieser erstmals in der Revisionsinstanz erhobenen Rüge nach § 6 Satz 1 KSchG im vorliegenden Verfahren ausgeschlossen ist. Der Anwendungsbereich der Kündigungsbeschränkungen nach § 2 Abs. 4 AbgG BR ist im Streitfall nicht eröffnet. Diese gelten bereits nach ihrem Wortlaut nur für Mitglieder der Bremischen Bürgerschaft und nicht für die Arbeitsverhältnisse von Mandatsträgern im Europäischen Parlament und/oder Bewerbern um ein solches Mandat. Der Bremische Gesetzgeber hat nur das Behinderungsverbot (§ 2 Abs. 2 AbgG BR) auf die Wahlbewerber für eine gesetzgebende Körperschaft eines anderen Landes erstreckt. Dass dies gleichermaßen für den nachwirkenden Kündigungsschutz (§ 2 Abs. 4 AbgG BR) gelten soll, ist nicht ersichtlich. Der für Bewerber um ein Mandat im Europäischen Parlament geltende Kündigungsschutz ist vielmehr in § 3 EuAbgG von dem für das Arbeitsrecht nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz zuständigen Bundesgesetzgeber abschließend ausgestaltet worden.
IV. Der hilfsweise nur für den Fall des Obsiegens mit dem Kündigungsschutzantrag gestellte Weiterbeschäftigungsantrag fällt dem Senat nicht zur Entscheidung an.
V. Die Kosten seiner erfolglosen Revision hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO der Kläger zu tragen.
Unterschriften
Koch, Rachor, Niemann, Grimberg, Brossardt
Fundstellen
Haufe-Index 11197674 |
BAGE 2018, 140 |
BB 2017, 2100 |
FA 2017, 315 |
FA 2017, 357 |
JR 2020, 91 |
NZA 2017, 1250 |
ZTR 2017, 617 |
AP 2018 |
EzA-SD 2017, 7 |
EzA 2018 |
NZA-RR 2017, 6 |
ArbRB 2017, 302 |
NJW-Spezial 2017, 627 |