Entscheidungsstichwort (Thema)
Einzelhandel und Großhandel. Betriebsbegriff
Orientierungssatz
Großhandel, der auch Einzelhandel betreibt; Geltungsbereich für den für allgemeinverbindlich erklärten Gehaltstarifvertrag für die Arbeitnehmer des Einzelhandels in Rheinland-Pfalz; Betriebsbegriff; Hilfs- und Nebenbetrieb.
Normenkette
TVG § 1
Verfahrensgang
LAG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 07.12.1987; Aktenzeichen 7 Sa 345/87) |
ArbG Ludwigshafen (Entscheidung vom 05.02.1987; Aktenzeichen 4 Ca 2366/86) |
Tatbestand
Die Beklagte betreibt Großhandel auf dem Gebiet der allgemeinen Lebenshaltungsartikel und ist Mitglied des Groß- und Außenhandelsverbandes Pfalz e. V. Sie beschäftigt an ihrem Hauptsitz in L etwa 380 Arbeitnehmer. In dessen Umgebung unterhält die Beklagte 10 Einzelhandelsgeschäfte, in denen etwa 140 Arbeitnehmer beschäftigt sind. Es besteht ein einheitlicher Betriebsrat. Die Beklagte wendet auf alle Arbeitsverhältnisse die Tarifverträge für den Großhandel in Rheinland-Pfalz an.
Die Klägerin, die Mitglied der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen ist, war in der Zeit vom 16. Juni 1986 bis 10. September 1986 als Fleischereifachverkäuferin im Einzelhandelsgeschäft der Beklagten in Lu, beschäftigt. Die Entfernung zum Hauptsitz der Beklagten beträgt etwa 35 km. Im Arbeitsvertrag der Klägerin ist vereinbart, daß sie sowohl am Hauptsitz als auch in den Einzelhandelsgeschäften eingesetzt werden kann.
Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, daß auf ihr Arbeitsverhältnis der allgemeinverbindliche Gehaltstarifvertrag für die Arbeitnehmer des Einzelhandels in Rheinland-Pfalz (GTV Einzelhandel) Anwendung finde. Bei dem Einzelhandelsgeschäft in Lu handele es sich um einen selbständigen Betrieb, der vom fachlichen Geltungsbereich des GTV Einzelhandel erfaßt werde. Nach dem Grundsatz der Spezialität habe dieser Tarifvertrag Vorrang vor den Tarifverträgen für die Arbeitnehmer im Großhandel, die die Beklagte anwende. Mit ihrer Klage hat die Klägerin die Differenzbeträge zwischen dem Gehalt nach dem GTV Einzelhandel und dem ihr gezahlten Gehalt in der unstreitigen Höhe von 700,-- DM brutto geltend gemacht.
Die Klägerin hat beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an sie 700,-- DM brutto nebst 4 % Zinsen seit Klagezustellung zu zahlen.
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und die Auffassung vertreten, daß auf das Arbeitsverhältnis der Klägerin der GTV Einzelhandel keine Anwendung finde. Bei den von ihr unterhaltenen Einzelhandelsgeschäften handele es sich nicht um selbständige Betriebe, sondern um unselbständige Betriebsabteilungen, die in wirtschaftlicher, technischer und personeller Hinsicht von der Verwaltung am Hauptsitz geleitet würden. Einkauf, technische Ausstattung, Buchhaltung und Personalangelegenheiten würden durch die entsprechenden Fachabteilungen der Zentrale vorgenommen werden. Lediglich der Einsatz der Mitarbeiter in den Einzelhandelsgeschäften erfolge durch den jeweiligen Abteilungs- bzw. Marktleiter. Es handele sich somit um einen einheitlichen Betrieb, bei dem die überwiegende Zahl der Arbeitnehmer im Großhandel tätig sei. Deshalb seien nach dem Grundsatz der Tarifeinheit zu Recht die Tarifverträge für die Arbeitnehmer im Großhandel angewendet und auch ein einheitlicher Betriebsrat gebildet worden. Die Einzelhandelsgeschäfte fielen außerdem zumindest als Hilfs- oder Nebenbetriebe unter den fachlichen Geltungsbereich dieser Tarifverträge.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihr Klageabweisungsbegehren weiter. Die Klägerin beantragt Zurückweisung der Revision. Dabei hat sie ihren Zinsanspruch auf Zinsen aus dem Nettobetrag beschränkt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des berufungsgerichtlichen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht. Mit der von ihm gegebenen Begründung konnte das Landesarbeitsgericht der Klage nicht stattgeben.
Die Klägerin stützt ihre Klage auf den Gehaltstarifvertrag für die Arbeitnehmer im Einzelhandel Rheinland-Pfalz (GTV Einzelhandel). Demgemäß kommt es für die Entscheidung des Rechtsstreits darauf an, ob dieser Tarifvertrag, der allgemeinverbindlich ist, auf das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien Anwendung fand. Dies hängt wiederum davon ab, ob der Betrieb der Beklagten vom fachlichen Geltungsbereich des GTV Einzelhandel erfaßt wird. Nach § 1 Buchstabe b GTV Einzelhandel gilt dieser Tarifvertrag "fachlich für alle Betriebe des Einzel- und Versandhandels einschließlich derjenigen Firmen, die ihren Hauptsitz außerhalb von Rheinland-Pfalz haben."
Das Landesarbeitsgericht nimmt an, daß das Einzelhandelsgeschäft, in dem die Klägerin als Fleischereifachverkäuferin beschäftigt war, unter den fachlichen Geltungsbereich des GTV Einzelhandel falle. Dabei unterstellt das Landesarbeitsgericht den Sachvortrag der Beklagten als zutreffend, daß sie einen Mischbetrieb unterhalte, der Groß- und Einzelhandel betreibe, wobei es sich bei den Einzelhandelsgeschäften um unselbständige Betriebsabteilungen handele. Für einen Mischbetrieb dieser Art, so nimmt das Landesarbeitsgericht an, bestimme sich die Tarifgeltung nach dem Grundsatz der Spezialität, so daß auf die Arbeitsverhältnisse der in den Einzelhandelsgeschäften beschäftigten Arbeitnehmer der GTV Einzelhandel Anwendung finde.
Diesen Ausführungen des Landesarbeitsgerichts vermag der Senat nicht zu folgen. Sie berücksichtigen schon nicht hinreichend den Wortlaut der tariflichen Bestimmung des § 1 Buchstabe b GTV Einzelhandel. Nach § 1 Buchstabe b GTV Einzelhandel werden vom fachlichen Geltungsbereich dieses Tarifvertrages nur "Betriebe" des Einzelhandels erfaßt. Da die Tarifvertragsparteien den Begriff des Betriebes nicht näher erläutert haben, ist davon auszugehen, daß sie ihn in seiner allgemeinen rechtlichen Bedeutung verwenden wollen (vgl. die Urteile des Senats BAGE 42, 272, 277 = AP Nr. 61 zu § 616 BGB; BAGE 50, 147, 151 = AP Nr. 35 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; vom 12. März 1986 - 4 AZR 547/84 - AP Nr. 3 zu § 1 TVG Tarifverträge: Seeschiffahrt; vom 1. April 1987 - 4 AZR 397/86 - AP Nr. 136 zu §§ 22, 23 BAT 1975 - auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung bestimmt - und vom 20. April 1988 - 4 AZR 646/87 - zur Veröffentlichung bestimmt). Üblicherweise wird danach der Betrieb angesehen als eine organisatorische Einheit von Betriebsmitteln, mit deren Hilfe der Unternehmer allein oder in Gemeinschaft mit seinen Mitarbeitern einen bestimmten arbeitstechnischen Zweck, der sich nicht in einer Befriedigung von Eigenbedarf erschöpft, fortgesetzt verfolgt (Neumann-Duesberg, Der Betrieb, in AR-Blattei (D) Betrieb I, (B) I 1; vgl. auch BAG Beschluß vom 1. Februar 1963 - 1 ABR 1/62 - AP Nr. 5 zu § 3 BetrVG; BAG Beschluß vom 24. Februar 1976 - 1 ABR 62/75 - AP Nr. 2 zu § 4 BetrVG 1972; Fitting/Auffarth/Kaiser/Heither, BetrVG, 15. Aufl., § 1 Rz 31; Kraft in GK-BetrVG, 4. Aufl., § 4 Rz 5; Dietz/Richardi, BetrVG, 6. Aufl., § 1 Rz 58; Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, 6. Aufl., S. 65; Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, 7. Aufl., Bd. I, S. 93). Ein Betrieb in diesem Sinne setzt damit eine eigenständige Organisation voraus. Diese liegt bei einer unselbständigen Betriebsabteilung, die das Landesarbeitsgericht hinsichtlich des Einzelhandelsgeschäfts, in dem die Klägerin tätig war, unterstellt, gerade nicht vor. Eine unselbständige Betriebsabteilung ist dem Betrieb zuzurechnen, in den sie eingegliedert ist. Sie kann deshalb schon nach dem Wortlaut des § 1 Buchstabe b GTV Einzelhandel nicht als solche vom fachlichen Geltungsbereich dieses Tarifvertrages erfaßt werden. Aus diesem Grunde war das angefochtene Urteil aufzuheben.
Der Senat kann in der Sache selbst nicht abschließend entscheiden, so daß der Rechtsstreit zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen war.
Entgegen der Auffassung der Beklagten kann aus der Tatsache, daß für den Hauptbetrieb in L und die 10 Einzelhandelsgeschäfte ein einheitlicher Betriebsrat gebildet worden ist, nicht bereits geschlossen werden, daß es sich bei den Einzelhandelsgeschäften um unselbständige Betriebsabteilungen eines Betriebes des Großhandels handelt. Zum einen bedingt allein die tatsächliche betriebsverfassungsrechtliche Organisation noch nicht zwingend den Schluß, daß diese in voller Übereinstimmung mit den betriebsverfassungsrechtlichen Vorschriften durchgeführt worden ist. Zum anderen haben die Tarifvertragsparteien weder in den Tarifverträgen für die Arbeitnehmer im Großhandel, die die Beklagte anwendet, noch im GTV Einzelhandel an den betriebsverfassungsrechtlichen Betriebsbegriff angeknüpft, sondern den Begriff des Betriebes allein in seiner allgemeinen rechtlichen Bedeutung verwendet. In diesem Falle kann auch nur dieser allgemeine Begriff zugrundegelegt werden und verbietet sich, ohne eine entsprechende tarifliche Bestimmung, die Gleichsetzung mit dem betriebsverfassungsrechtlichen Betriebsbegriff (vgl. BAG Urteil vom 31. August 1988 - 4 AZR 165/88 - nicht zur Veröffentlichung vorgesehen).
Zur Entscheidung des Rechtsstreits bedarf es vielmehr weiterer Tatsachenfeststellungen durch das Landesarbeitsgericht. Die Klägerin hat in den Vorinstanzen geltend gemacht, daß es sich bei dem Einzelhandelsgeschäft, in dem sie tätig war, um einen selbständigen Betrieb im Sinne von § 1 Buchstabe b GTV Einzelhandel handele, so daß dieser vom fachlichen Geltungsbereich des GTV Einzelhandel erfaßt werde. Demgegenüber hat die Beklagte vorgetragen, daß sie einen einheitlichen Betrieb unterhalte, da die Einzelhandelsgeschäfte in wirtschaftlicher, technischer und personeller Hinsicht von der Verwaltung am Hauptsitz geleitet würden und der Einkauf, die technische Ausstattung, die Buchhaltung und die personellen Angelegenheiten durch die entsprechenden Fachabteilungen der Zentrale vorgenommen werden würden. Zu diesem differierenden Sachvortrag der Parteien hat das Landesarbeitsgericht, anders als das Arbeitsgericht, keine Tatsachenfeststellungen getroffen. Das Landesarbeitsgericht hat vielmehr den Sachvortrag der Beklagten nur als zutreffend unterstellt. Von dieser Unterstellung geht das Landesarbeitsgericht auch bei seinen weiteren Ausführungen aus. Selbst wenn diese hinsichtlich der Frage, ob die Beklagte einen Mischbetrieb, der im Groß- und Einzelhandel tätig ist, unterhält, eine Tatsachenfeststellung enthalten sollten, so hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat mit Recht nach § 286 ZPO gerügt, daß das angefochtene Urteil insoweit keine Begründung enthält (vgl. BAGE 10, 262, 267 = AP Nr. 22 zu § 56 BetrVG).
Das Landesarbeitsgericht wird daher festzustellen haben, ob es sich - entsprechend dem Sachvortrag der Klägerin - bei dem Einzelhandelsgeschäft, in dem sie tätig war, um einen selbständigen Betrieb handelt oder - entsprechend dem Vorbringen der Beklagten - diese einen einheitlichen Betrieb unterhält, der allerdings mit dem am Hauptsitz betriebenen Großhandel und mit dem von den Einzelhandelsgeschäften betriebenen Einzelhandel unterschiedliche Zwecke verfolgt, so daß es sich um einen sogenannten Mischbetrieb handelt.
Stellt das Landesarbeitsgericht fest, daß es sich bei dem Einzelhandelsgeschäft um einen selbständigen Betrieb handelt, so wird dieser vom fachlichen Geltungsbereich des GTV Einzelhandel erfaßt. Eine Tarifkonkurrenz zu den Tarifverträgen für die Arbeitnehmer im Großhandel kommt dann nicht in Betracht. Der fachliche Geltungsbereich des Tarifvertrages für die Arbeitnehmer im Großhandel erstreckt sich auf alle Unternehmen des Groß- und Außenhandels einschließlich ihrer Hilfs- und Nebenbetriebe. Für Hilfs- und Nebenbetriebe ist kennzeichnend, daß von ihnen Leistungen erbracht werden, die dem arbeitstechnischen Zweck des Hauptbetriebes dienen (BAG Urteil vom 1. April 1987 - 4 AZR 77/86 - AP Nr. 64 zu § 613 a BGB). Diese Voraussetzung trifft für das Einzelhandelsgeschäft, in dem die Klägerin tätig war, nicht zu. Dieses erbringt keine Leistungen, die dem Großhandel dienen, den die Beklagte an ihrem Hauptsitz in L betreibt. Im übrigen wäre bei einer Tarifkonkurrenz zwischen den Tarifverträgen für die Arbeitnehmer im Großhandel und den Tarifverträgen für die Arbeitnehmer im Einzelhandel in bezug auf das Einzelhandelsgeschäft, in dem die Klägerin tätig war, den Tarifverträgen für die Arbeitnehmer im Einzelhandel nach dem Grundsatz der Spezialität der Vorrang einzuräumen.
Stellt das Landesarbeitsgericht fest, daß die Beklagte einen einheitlichen Betrieb als Mischbetrieb unterhält, wobei das Einzelhandelsgeschäft, in dem die Klägerin tätig war, als (selbständige oder unselbständige) Betriebsabteilung anzusehen ist, so sind für die Beurteilung der Tarifgeltung die Grundsätze anzuwenden, die der Senat hinsichtlich der Tarifgeltung bei Mischbetrieben aufgestellt hat. Danach kommt es für die Tarifgeltung entscheidend darauf an, mit welchen Aufgaben die Arbeitnehmer des Betriebes überwiegend beschäftigt werden. Wirtschaftliche Gesichtspunkte sowie handels- und gewerberechtliche Kriterien sind grundsätzlich unbeachtlich. Sie können lediglich ergänzend und zur Bestätigung mit herangezogen werden (vgl. die Urteile des Senats vom 25. November 1987 - 4 AZR 361/87 - zur Veröffentlichung vorgesehen; vom 25. Februar 1987 - 4 AZR 230/86 - AP Nr. 79 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau, - 4 AZR 240/86 - AP Nr. 81 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau und vom 21. März 1984 - 4 AZR 61/82 - nicht veröffentlicht, im Anschluß an BAGE 25, 188, 193 = AP Nr. 13 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau, m. w.N.). Nach diesen Grundsätzen fiele der Betrieb der Beklagten als ganzer nicht unter den fachlichen Geltungsbereich des GTV Einzelhandel, da die überwiegende Anzahl der Arbeitnehmer unstreitig im Bereich des Großhandels tätig ist. Die Beklagte hätte in diesem Falle zu Recht die entsprechenden Tarifverträge für die Arbeitnehmer im Großhandel angewendet. Eine Tarifkonkurrenz läge entgegen den Ausführungen der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat demgemäß gar nicht vor.
Das Landesarbeitsgericht wird auch über die in der Revisionsinstanz entstandenen Kosten mit zu entscheiden haben.
Dr. Neumann Dr. Etzel Dr. Freitag
Dr. Börner Pahle
Fundstellen