Entscheidungsstichwort (Thema)
Außerordentliche Kündigung nach Einigungsvertrag
Leitsatz (amtlich)
Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 5 der Anlage I zum Einigungsvertrag ist anwendbar, wenn der Beschäftigte zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Beitritts dem öffentlichen Dienst der ehemaligen DDR angehörte und das zu kündigende Arbeitsverhältnis mit bzw. nach dem Wirksamwerden des Beitritts infolge Überführung der Beschäftigungseinrichtung auf den neuen Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes übergegangen oder durch Weiterverwendung des Arbeitnehmers – gegebenenfalls in einem anderen Verwaltungsbereich – neu begründet worden ist.
Normenkette
Einigungsvertrag Art. 20 Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschn. III Nrn. 1, 3; BPersVG § 79 Abs. 3-4
Verfahrensgang
LAG Köln (Urteil vom 07.01.1993; Aktenzeichen 10 Sa 823/92) |
ArbG Bonn (Urteil vom 30.04.1992; Aktenzeichen 5 Ca 2390/91) |
Tenor
- Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln vom 7. Januar 1993 – 10 Sa 823/92 – aufgehoben.
- Der Rechtsstreit wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer auf Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 5 Ziff. 2 des Einigungsvertrages (fortan: Abs. 5 Ziff. 2 EV) gestützten außerordentlichen Kündigung, Hilfsweise macht die Beklagte geltend, die außerordentliche Kündigung sei in eine ordentliche Kündigung umzudeuten. Der Kläger beansprucht für die Dauer des Kündigungsschutzverfahrens tatsächliche Weiterbeschäftigung.
Der am 4. März 1942 geborene Kläger ist Diplom-Staatswissenschaftler. Er steht seit dem 3. Oktober 1990 bei der Beklagten in einem Arbeitsverhältnis als Verwaltungsangestellter des Bundesministeriums des Innern. Das Arbeitsverhältnis war zunächst bis zum 14. August 1991 befristet. Durch Arbeitsvertrag vom 15. August 1991 wurde er unter Einreihung in die VergGr. Vb BAT unbefristet angestellt. In § 3 dieses Arbeitsvertrages vereinbarten die Parteien die Auflösung des Beschäftigungsverhältnisses für den Fall, “daß nach dem Ergebnis der Überprüfung beim Sonderbeauftragten für die Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der Angestellte für das Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit tätig gewesen ist”. Zuvor hatte der Kläger in einem seiner Bewerbung beigefügten Personalbogen vom 11. Oktober 1990 die Frage, ob er Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit oder des Amtes für Nationale Sicherheit gewesen sei, verneint. Ebenso hatte er die Frage nach einer nebenamtlichen Tätigkeit verneint. Im Rahmen eines Vorstellungsgesprächs am 19. März 1991 hatte der Kläger angegeben, es habe lediglich einen erfolglosen Anwerbeversuch des Ministeriums für Staatssicherheit im Jahre 1963 gegeben.
Der Sonderbeauftragte der Bundesregierung für die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes teilte der Beklagten mit Schreiben vom 30. August 1991 mit, daß sich aus den überprüften Unterlagen Hinweise auf eine Zusammenarbeit des Klägers mit dem ehemaligen Staatssicherheitsdienst ergeben hätten. Im einzelnen werde der Kläger dort als inoffizieller Mitarbeiter – Vorlauf (IM-Vorlauf) geführt, der den vorläufigen Decknamen “Bernd” hatte, und zwar für die Zeit von April 1983 bis Oktober 1983. Als Grund und Ziel der Werbung wurde angegeben: “Inoffizielle Durchdringung des Wohngebietes D… als Grund der Beendigung: durch Umzug nach Berlin nicht mehr nutzbar”. Zu “Art und Umfang der Berichte” vermerkte der Sonderbeauftragte: “Er gab bei fünf Kontaktgesprächen, die zweimal in konspirativen Wohnungen stattfanden, mehrere mündliche Personeneinschätzungen”. Abschließend merkte er an: “Herr W… hatte Kenntnis vom IM-Vorlauf. Die Anforderungen, die an ihn gestellt wurden, erfüllte er mit Eigeninitiative. Er schätzte die Zusammenarbeit mit dem MfS hoch ein und wertete sie als echtes Betätigungsfeld und bedauerte, daß durch den Umzug nach Berlin die Zusammenarbeit mit dem MfS beendet ist.” Zum Beleg dieser Feststellungen waren zwei Berichte des damaligen Führungsoffiziers beigefügt. Dem Bericht des Sonderbeauftragten waren ferner maschinenschriftlich gefertigte Berichte mit Datum vom 26. April 1983 und vom 23. Juni 1983 beigefügt, die der Kläger selbst handschriftlich ergänzt und unterschrieben hatte.
Am 26. September 1991 wurde der Kläger zum Bericht des Sonderbeauftragten angehört und mit sofortiger Wirkung von der Arbeitsleistung freigestellt.
Der Personalrat im Bundesministerium des Innern wurde mit Schreiben vom 26. September 1991 zu einer gegenüber dem Kläger beabsichtigten außerordentlichen Kündigung angehört und vermerkte auf demselben Schreiben unter dem Datum vom 2. Oktober 1991, daß er keine Einwendungen erhebe.
Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis unter Hinweis auf Abs. 5 Ziff. 2 EV wegen Tätigkeit des Klägers für das Ministerium für Staatssicherheit sowie wegen wahrheitswidriger Angaben des Klägers über seine frühere Tätigkeit fristlos. Das Kündigungsschreiben ging dem Kläger am 18. Oktober 1991 zu.
Mit der am 31. Oktober 1991 beim Arbeitsgericht eingereichten Feststellungsklage hat der Kläger die Unwirksamkeit der Kündigung geltend gemacht. Der Kläger hat die Ansicht vertreten, die Kündigung sei schon deshalb unwirksam, weil der Personalrat nicht ordnungsgemäß angehört worden sei, jedenfalls gelte dies für eine möglicherweise hilfsweise erklärte ordentliche Kündigung. Die fristlose Kündigung sei wegen Versäumung der Erklärungsfrist gemäß § 626 Abs. 2 BGB unwirksam. Zudem fehle es an einem wichtigen Grund, denn er habe nur wegen der bestehenden Zwangslage und des auf ihn ausgeübten Drucks bestimmte formale Angaben gemacht, die niemandem hätten schaden können. Eine Verpflichtungserklärung habe er nicht abgegeben. Er habe nicht gewußt, daß er als IM-Vorlauf mit dem Decknamen “Bernd” geführt worden sei. Der Führungsoffizier habe lediglich verlangt, daß er die Berichte nur mit seinem Vornamen unterzeichne. Die Kontakte zum Ministerium für Staatssicherheit seien mit seinem Umzug nach Berlin im Jahre 1983 beendet gewesen. Wäre er ein besonders eifriger Mitarbeiter gewesen, wäre es sicherlich in Berlin zu weiteren Kontakten mit dem Ministerium gekommen. Seine Weiterbeschäftigung bei der Beklagten sei zumutbar, weil er lediglich als Sachbearbeiter ohne publikumsintensive Tätigkeit und ohne besondere Berührung mit personenspezifischen Daten für die Beklagte tätig sei. Die Umdeutung der unwirksamen fristlosen Kündigung in eine fristgemäße Kündigung scheitere daran, daß aus der Kündigungserklärung nicht erkennbar gewesen sei, die Beklagte wolle das Arbeitsverhältnis in jedem Falle beenden.
Der Kläger hat beantragt
- festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die fristlose Kündigung seitens der Beklagten vom 18.10.1991 nicht aufgelöst worden ist und fortbesteht;
- die Beklagte zu verurteilen, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluß des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten Arbeitsbedingungen als Verwaltungsangestellten weiterzubeschäftigen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hat geltend gemacht, ihr sei ein Festhalten am Arbeitsverhältnis mit dem Kläger unzumutbar, weil dieser konkrete Aufträge des Ministeriums für Staatssicherheit ausgeführt habe, um die Zuverlässigkeit und Arbeitsqualität als IM-Anwärter zu belegen. Er habe sich jedenfalls mit seiner Unterschrift den gesamten Inhalt der Berichte aus dem Jahre 1983 zu eigen gemacht. Zudem sei das Vertrauensverhältnis zum Kläger tiefgreifend gestört, weil dieser wiederholt wahrheitswidrige Angaben gemacht habe.
Das Arbeitsgericht hat festgestellt, daß das Arbeitsverhältnis nicht durch die fristlose Kündigung, sondern durch eine hilfsweise ordentliche Kündigung mit Ablauf des 30. November 1991 beendet worden sei, und im übrigen die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und auf die Berufung des Klägers festgestellt, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die fristlose Kündigung der Beklagten vom 18. Oktober 1991 nicht aufgelöst worden sei und fortbestehe. Es hat die Beklagte verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluß des Rechtsstreits zu unveränderten Arbeitsbedingungen als Verwaltungsangestellten weiterzubeschäftigen. Mit der zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte das Ziel der Klageabweisung weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und der Rechtsstreit zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen.
A. Das Landesarbeitsgericht hat im wesentlichen ausgeführt: Die fristlose Kündigung vom 18. Oktober 1991 sei rechtsunwirksam. Bei der gebotenen Einzelfallprüfung erscheine ein Festhalten an dem Arbeitsverhältnis wegen der Tätigkeit des Klägers für das frühere Ministerium für Staatssicherheit (MfS) nicht unzumutbar. Abs. 5 EV schaffe keinen absoluten Kündigungsgrund. Die Unzumutbarkeit müsse sich aus einer Einzelfallprüfung ergeben. Es sei anhand des unstreitigen Sachverhaltes eindeutig festzustellen, daß der Kläger bewußt und zielgerichtet als Vorlauf-IM tätig geworden sei. Dieser Sachverhalt rechtfertige es, die Kündigungsvoraussetzungen nicht von vornherein gegenüber dem hauptamtlichen Mitarbeiter nach weniger strengen Kriterien zu prüfen. Es sei im Gegenteil festzustellen, daß gerade die innere Einstellung und politische Überzeugung, die einer Tätigkeit als IM zugrunde liegen könnte, den Grundsätzen einer rechtsstaatlichen Ordnung deutlicher widersprächen als bei einer hauptberuflichen MfS-Tätigkeit. Gerade der konspirative Charakter der Tätigkeit des IM könne für die Zumutbarkeitsprüfung im Einzelfall von größerem Gewicht sein als beispielsweise die offizielle Mitarbeit im Rahmen von unschädlichen Aufgaben des MfS. Dabei sei es nur von untergeordneter Bedeutung, ob der inoffizielle Mitarbeiter oder der Vorlauf-IM den von ihm überwachten Personen konkret geschadet oder bestimmte Personen durch die Art seiner Tätigkeitsausübung begünstigt bzw. vor einer Verfolgung bewahrt habe. Insbesondere die Bereitschaft zu einem entsprechenden Eindringen in die menschliche Privat- oder Intimsphäre gebe Anlaß zu größerer Zurückhaltung. Der Kläger habe mit den seinem Führungsoffizier zugeleiteten Berichten über Privatpersonen aus seinem Bekanntenkreis eindeutig der repressiven Zielrichtigung des MfS zugearbeitet. Die betroffenen Personen seien dadurch zumindest gegenüber einem schon der Anzahl nach unbestimmten Personenkreis persönlich bloßgestellt worden. Die Berichte des Klägers mit Datum vom 23. Juni 1983 und vom 26. Juli 1983 seien für sich betrachtet geeignet, das Arbeitsverhältnis der Parteien bei der gebotenen objektiven Betrachtung so zu belasten, daß die Zumutbarkeit des Festhaltens am Arbeitsvertrag fraglich erscheine, weil der Kläger nunmehr im Rahmen der staatlichen Aufgaben der Beklagten Tätigkeiten in der Berliner Außenstelle eines Bundesministeriums ausübe. Das Gericht habe keinen Zweifel, daß der Kläger die im einzelnen vom Gericht gewürdigten Berichte nach Inhalt und Tendenz innerlich mit der Erwartung befürwortet habe, damit die Zufriedenheit seines Führungsoffiziers zu erlangen. Er habe mit beiden Berichten die Ziele der Staatssicherheit bewußt unterstützt. Gleichwohl erscheine das Festhalten an dem Arbeitsverhältnis nicht als unzumutbar. Die Tätigkeit habe nur kurze Zeit angedauert und habe keinerlei Fortsetzung erfahren, insbesondere zu keiner Verpflichtungserklärung des Klägers geführt. Diese konkreten Umstände des Einzelfalles ließen es auch unter Berücksichtigung des Gesetzeszwecks zumutbar erscheinen, daß der Kläger an seinem Arbeitsplatz als Verwaltungsangestellter weiterbeschäftigt werde.
Hilfsweise ergebe sich die Unwirksamkeit der Kündigung aus der Nichtwahrung der Kündigungserklärungsfrist gemäß § 626 Abs. 2 BGB. Darüber hinaus habe die Beklagte das Gebot der Rechtssicherheit mißachtet und die Ausübung des Gestaltungsrechts nach dem Grundsatz von Treu und Glauben verwirkt. Der Kläger habe ab dem 26. September 1991 annehmen können, die Beklagte habe vollständige Kenntnis von dem Kündigungsgrund und werde nunmehr den Personalrat wegen einer fristlosen Kündigung beteiligen. Nach Ablauf der Erklärungsfrist habe sich der Kläger sagen müssen, daß die Beklagte in seinem Falle von einer fristlosen Kündigung abgesehen habe.
Auf die weiteren Gründe könne die Kündigung gleichfalls nicht gestützt werden, weil auch insofern die Frist des § 626 Abs. 2 BGB verstrichen gewesen sei.
Die unwirksame außerordentliche Kündigung könne nicht in eine ordentliche Kündigung umgedeutet werden, weil es insofern an der ordnungsgemäßen Beteiligung des Personalrats fehle.
B. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts ist rechtsfehlerhaft.
1. Das Landesarbeitsgericht hat Abs. 5 Ziff. 2 EV angewendet, ohne die Voraussetzungen der Anwendbarkeit festzustellen.
2. Nach Art. 20 Abs. 1 EV gelten für die Arbeitsverhältnisse der Angehörigen des öffentlichen Dienstes zum Zeitpunkt des Beitritts die in Anlage I vereinbarten Übergangsregelungen.
a) Abs. 5 EV gehört zu den Übergangsregelungen im Sinne von Art. 20 EV. Danach gelten die Übergangsregelungen nur für die Rechtsverhältnisse der Angehörigen des öffentlichen Dienstes zum Zeitpunkt des Beitritts. Damit setzt der Wortlaut für die Anwendbarkeit der Übergangsregelungen lediglich voraus, daß der Arbeitnehmer am 2. Oktober 1990, 24.00 Uhr, dem öffentlichen Dienst angehörte, nicht aber, daß das gekündigte Rechtsverhältnis schon zu diesem Zeitpunkt bestand. Art. 20 EV ist auch anwendbar, wenn ein am 2. Oktober 1990 dem öffentlichen Dienst Angehörender erst danach ein neues, anderes Rechtsverhältnis begründet. So gelten z. B. die Übergangsregelungen der Nr. 3 des Abschnitts III der Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Einigungsvertrag betreffend die Ernennung von Beamten für die Neubegründung eines Rechtsverhältnisses nach dem Wirksamwerden des Beitritts.
b) Eine Einschränkung des Anwendungsbereiches ergibt sich aus Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 der in Art. 20 Abs. 1 EV angesprochenen Übergangsregelung der Anlage I selbst.
aa) Die Absätze 1 bis 7 der Nr. 1 von Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III des Einigungsvertrages bilden eine einheitliche Regelung, die in ihrem Gesamtzusammenhang auszulegen ist. Das ergibt sich unter Zugrundelegung der Vorstellungen des Gesetzgebers. Danach sollte durch den Einigungsvertrag im Interesse der Verwaltungskontinuität die Rechtsgrundlage für die grundsätzliche Fortgeltung der “bisherigen” Arbeitsverhältnisse zu unveränderten Bedingungen geschaffen werden (vgl. Erläuterungen zu den Anlagen zum Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31. August 1990 – Einigungsvertrag –, BT-Drucksache 11/7817, S. 179). Diese Fortgeltung sollte mit den besonderen Maßgaben der Absätze 2 bis 7 verknüpft werden (ebd.).
bb) Nr. 1 Abs. 1 EV bestimmt: “Für die beim Wirksamwerden des Beitritts in der öffentlichen Verwaltung der Deutschen Demokratischen Republik … beschäftigten Arbeitnehmer gelten die am Tage vor dem Wirksamwerden des Beitritts für sie geltenden Arbeitsbedingungen mit den Maßgaben dieses Vertrages, insbesondere der Absätze 2 bis 7 fort.”. Die Formulierung “Fortgeltung der Arbeitsbedingungen” setzt gedanklich voraus, daß sich die Regelung auf Arbeitsverhältnisse bezieht, die schon bestanden haben und fortgesetzt werden. Für nachträglich neu begründete Arbeitsverhältnisse kann es keine “Fortgeltung” von Bedingungen geben. Daher bezieht sich Abs. 1 EV dem Wortlaut nach auf die bestehenden Arbeitsverhältnisse der zum Zeitpunkt des Beitritts im öffentlichen Dienst der ehemaligen DDR Beschäftigten. Für diese Arbeitsverhältnisse gelten die Maßgaben der Absätze 2 bis 7 EV.
cc) Die Absätze 2 und 3 EV, die den Ausdruck “Arbeitsverhältnis” in diesem Zusammenhang erstmals aufgreifen, regeln vorrangig den Übergang und das Ruhen von Arbeitsverhältnissen. Auch dies kann sich nur auf solche Arbeitsverhältnisse beziehen, die schon im Zeitpunkt des Beitritts begründet waren. Die Absätze 4 und 5 EV enthalten nach dem Wortlaut keine Einschränkungen ihres Geltungsbereiches, wohl aber Regelungen, die sowohl von ihrer redaktionellen Anordnung als auch von ihrem Inhalt her im Zusammenhang mit den vorhergehenden Absätzen stehen. Da für ein redaktionelles Versehen der Parteien des Einigungsvertrages oder für eine gewollte Unterbrechung des Zusammenhanges keine Anhaltspunkte vorliegen, ist von einer einheitlichen Verwendung und Bedeutung des auch in den Absätzen 4 und 5 EV wiederkehrenden Begriffes “Arbeitsverhältnisse” auszugehen. Hierzu gehören nicht nur die Arbeitsverhältnisse der in überführten Einrichtungen tätigen Beschäftigten, sondern auch die wegen unterbliebener Überführung der Beschäftigungseinrichtung ruhenden.
dd) Darüber hinaus ist in Abs. 2 Sätze 4 und 5 EV die Weiterverwendung von Arbeitnehmern – gegebenenfalls in anderen Verwaltungsbereichen – geregelt. Eine solche anderweitige Verwendung mußte insbesondere, wenn sie den Rahmen einer Um- bzw. Versetzung überschritt, mit dem Abschluß eines neuen Arbeitsvertrages oder Änderungsvertrages einhergehen. Hierzu stellt Nr. 1 Abs. 6 EV mit seiner Verweisung klar, daß die Absätze 4 und 5 EV auch auf die durch Weiterverwendung begründeten Arbeitsverhältnisse Anwendung finden. Danach ist nicht jedes neu begründete Arbeitsverhältnis der Anwendung der Sonderkündigungsregeln entzogen, sondern nur eine solche Neueinstellung, die keine Weiterverwendung im Sinne von Nr. 1 Abs. 2 EV darstellt.
3. Ob der Kläger in diesem Sinne Angehöriger des öffentlichen Dienstes der ehemaligen DDR war und sein Rechtsverhältnis durch Überführung der Beschäftigungseinrichtung oder im Falle ihrer Abwicklung durch Weiterverwendung auf die Beklagte übergegangen ist, wird das Landesarbeitsgericht festzustellen haben.
C. Findet Abs. 5 Ziff. 2 EV Anwendung, wird das Landesarbeitsgericht folgendes zu beachten haben:
1. Nach der Rechtsprechung des Senats (Urteile vom 11. Juni 1992 – 8 AZR 537/91 und 8 AZR 474/91 – AP Nr. 1 und 4 zu Einigungsvertrag Anlage I Kapitel XIX, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen) regelt Abs. 5 EV eigenständig und abschließend, unbeschadet von § 626 BGB, die Möglichkeit einer außerordentlichen Kündigung im öffentlichen Dienst. Der wichtige Grund im Sinne des Abs. 5 EV ist erfüllt, wenn die Voraussetzungen des Konditionalsatzes gegeben sind. Dementsprechend genügt die Erfüllung der in Abs. 5 EV mit dem Wort “wenn” eingeleiteten Voraussetzungen zur Annahme des wichtigen Grundes. Einer Ergänzung des Abs. 5 EV durch eine teilweise oder vollständige Anwendung des § 626 BGB bedarf es nicht.
Kündigungsvoraussetzung gemäß Abs. 5 Ziff. 2 EV ist eine Tätigkeit des Arbeitnehmers für das Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit. Die Verwendung der Präposition “für” anstelle der näherliegenden “beim” bedeutet, daß nur eine bewußte Mitarbeit die Kündigung rechtfertigen kann. Abs. 5 EV leitet die Unzumutbarkeit aus der früheren Tätigkeit her. Ihretwegen (“deshalb”) muß ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheinen. Einzelfallprüfungen sind daher unerläßlich.
Das individuelle Maß der Verstrickung bestimmt hierbei über die außerordentliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses. Berücksichtigungsfähig sind Zeitpunkt und Grund der Aufnahme und der Beendigung dieser Tätigkeit für die Staatssicherheit.
Die Wirksamkeit der außerordentlichen Kündigung ist anhand objektiver Kriterien zu beurteilen. Über die Frage, ob der einzelne Mitarbeiter weiterhin einer demokratisch legitimierten und rechtsstaatlich verfaßten Verwaltung angehören darf, bestimmt der Arbeitgeber unter Beachtung der Anforderungen, die in einem Rechtsstaat an den öffentlichen Dienst gestellt werden. Es finden nur solche Tatsachen Berücksichtigung, die zum Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs vorlagen. Insofern kommt dem Merkmal “erscheint” besondere Bedeutung zu, denn damit hebt das Gesetz nicht auf eine intern ermittelbare Lage, sondern auf die vordergründige Erscheinung der Verwaltung mit diesem Mitarbeiter ab.
Das Kündigungsrecht gemäß Abs. 5 EV ist nur Arbeitgebern des öffentlichen Dienstes eröffnet. Sie sollen nicht darin behindert werden, dauerhaftes Vertrauen der Bürger in die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zu schaffen. Diese äußere Betrachtungsweise, die durch den Rechtsbegriff “erscheint” gefordert ist, hindert die Berücksichtigung von Entlastungstatsachen, sofern sich diese nicht in gleicher Weise wie die frühere belastende Tätigkeit manifestiert haben. Nur unter dieser Voraussetzung sind sie geeignet, das Erscheinungsbild der Vorbelastung zu erschüttern und der Feststellung der Unzumutbarkeit entgegenzuwirken.
2. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend erkannt, daß der Kläger für das MfS im Sinne von Abs. 5 Ziff. 2 EV tätig war. Insbesondere setzt Abs. 5 Ziff. 2 EV nicht voraus, daß es sich um eine Tätigkeit als hauptamtlicher oder inoffizieller Mitarbeiter handelte, so daß auch die im vorliegenden Streitfalle festgestellte Berichtstätigkeit im Rahmen eines IM-Vorlaufes den Kündigungstatbestand erfüllt. Ebenso zutreffend hat das Landesarbeitsgericht gewürdigt, daß diese konspirative Berichtstätigkeit des Klägers in besonderer Weise geeignet ist, das Erscheinungsbild der öffentlichen Verwaltung und dabei insbesondere eines Bundesministeriums negativ zu beeinflussen. Es hat aber rechtsfehlerhaft angenommen, die kurze Dauer der Tätigkeit mache es der Beklagten nicht unzumutbar, am Arbeitsverhältnis mit dem Kläger festzuhalten. Insofern hat das Berufungsgericht zwei wesentliche Gesichtspunkte unzureichend berücksichtigt. Zum einen war der Kläger als Diplom-Staatswissenschaftler mit sachbearbeitender Funktion im Bundesministerium des Innern und damit im Kernbereich öffentlicher Verwaltung als Teil des öffentlichen Dienstes mit keiner lediglich untergeordneten Aufgabe eingesetzt. Zum anderen wurde die sich auf fünf Treffen mit dem Führungsoffizier erstrekkende Tätigkeit aus keinem den Kläger entlastenden Grunde beendet. Vielmehr ist unstreitig, daß die Tätigkeit allein aufgrund des Wegzuges des Klägers eingestellt wurde. Hieraus ergibt sich kein Umstand, den das Berufungsgericht im Rahmen seiner Rechtsanwendung zugunsten des Klägers verwenden durfte. Damit verbleiben nach dem bisherigen Sach- und Streitstand im Rahmen der Einzelfallprüfung ausschließlich gegen eine Weiterbeschäftigung des Klägers als Sachbearbeiter im Bundesministerium des Innern sprechende Umstände.
3. § 626 Abs. 2 BGB findet auf eine Kündigung nach Abs. 5 Ziff. 2 EV weder unmittelbare noch entsprechende Anwendung. Die Erwägungen des Berufungsurteils geben keine Veranlassung, von der bisherigen Rechtsprechung des Senats abzuweichen und das Recht fortzubilden.
4. Die Annahme des Berufungsgerichts, die Beklagte habe ihr Kündigungsrecht verwirkt, ist rechtlich nicht vertretbar.
Eine Kündigung kann wegen Verwirkung unbeachtlich sein. Die Verwirkung ist ein Fall des widersprüchlichen Verhaltens und damit der unzulässigen Rechtsausübung (BAG Urteil vom 24. September 1986 – 7 AZR 46/85 –, zu IV 1a der Gründe, n.v.). Ein Verwirkungstatbestand liegt vor, wenn der Kündigende längere Zeit trotz Vorliegens eines Kündigungsgrundes die Kündigung nicht ausgesprochen hat, obwohl ihm das möglich und zumutbar war, und dadurch beim Kündigungsempfänger das Vertrauen erweckt hat, die Kündigung werde unterbleiben (Hueck/v. Hoyningen-Huene, KSchG, 11. Aufl., § 1 Rz 158a; KR-Wolf, 3. Aufl., Grundsätze Rz 342). Voraussetzung ist dabei, daß der Arbeitnehmer sich auf den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses eingerichtet hat (BAGE 2, 1 = AP Nr. 1 zu § 626 BGB Verdacht strafbarer Handlung; BAGE 29, 158 = AP Nr. 11 zu § 626 BGB Ausschlußfrist; KR-Becker, 3. Aufl., § 1 KSchG Rz 171). Ein Verwirkungstatbestand liegt nicht vor, wenn neue Umstände gegenüber der ursprünglichen Betrachtung hinzutreten (BAG Urteil vom 21. Februar 1957 – 2 AZR 410/54 – AP Nr. 22 zu § 1 KSchG). Es kommt jeweils auf die konkreten Umstände des Einzelfalles an. Im vorliegenden Fall genügt der Ablauf von drei Wochen (26. September bis 18. Oktober 1991) bereits deshalb nicht, weil der Kläger ab dem 26. September 1991 von der tatsächlichen Arbeitsleistung freigestellt war und bis zum Zugang der Kündigung kein Widerruf dieser Freistellung erfolgte. Der Kläger hatte keinen Grund, schützenswertes Vertrauen in das Unterbleiben einer Kündigung zu bilden.
5. Eine ordnungsgemäße Anhörung des Personalrats liegt vor. Nach § 79 Abs. 3 Satz 1 BPersVG ist der Personalrat vor außerordentlichen Kündigungen anzuhören. Nach Satz 2 dieser Vorschrift ist die beabsichtigte Maßnahme zu begründen. Nach § 79 Abs. 4 BPersVG ist eine Kündigung unwirksam, wenn der Pesonalrat nicht beteiligt worden ist. Ist das Anhörungsverfahren nicht oder nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden, ist eine außerordentliche Kündigung unwirksam, denn eine nicht ordnungsgemäße Beteiligung steht einer unterbliebenen Beteiligung gleich (BVerwG Urteil vom 9. Mai 1985 – 2 C 23.83 – ZBR 1985, 347; Grabendorff/Windscheid/Ilbertz/Widmaier, BPersVG, 7. Aufl., § 79 Rz 34; Lorenzen/Haas/Schmitt, BPersVG, Stand: Januar 1994, § 79 Rz 140; BAG Urteil vom 5. Februar 1981 – 2 AZR 1135/78 – AP Nr. 1 zu § 72 LPVG NW). Aus dem inhaltlich nicht bestrittenen Anhörungsschreiben der Beklagten ergibt sich, daß die Beklagte den Personalrat ordnungsgemäß über die beabsichtigte außerordentliche Kündigung gemäß Abs. 5 Ziff. 2 EV unterrichtet hat.
D. Die Revision der Beklagten ist hinsichtlich des Weiterbeschäftigungsanspruches bereits deshalb begründet, weil nach der Aufhebung des Urteils des Landesarbeitsgerichts die Unwirksamkeit der Kündigung durch kein arbeitsgerichtliches Urteil festgestellt wird.
Unterschriften
Dr. Ascheid, Dr. Müller-Glöge, Dr. Mikosch, Schömburg, Schmitzberger
Fundstellen
Haufe-Index 856677 |
BAGE, 284 |
BB 1994, 868 |
NZA 1994, 844 |